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Wie wäre es mit weniger Deutschland und mehr Europa, Herr Seehofer?

Nation, Patriotismus, Vaterland. Ich kann mit diesen Begriffen nicht viel anfangen. Klar weiß ich, was sie bedeuten, doch irgendwie stoße ich mich an ihnen. Ich assoziiere mit ihnen automatisch jene Bewegungen, die seit ein paar Jahren Stimmung gegen die europäische Integration machen. Die Zäune und Grenzen fordern. Die für radikale Abschottung sind statt für Weltoffenheit und Toleranz. Mir macht diese Entwicklung ernsthaft Sorgen. Denn bei all den Problemen unserer Zeit, da bin ich fest überzeugt, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Europa.

Erinnert sich noch jemand an die erste Pressekonferenz der Großen Koalition im März? Horst Seehofer sagte den legendären Satz: „Ich hab’ das Heimatmuseum, äh, das Heimatministerium, das Heimatministerium in Bayern gegründet.” War es ein Versprecher? Oder ist Seehofer hier aus Versehen die Wahrheit rausgerutscht? Egal. Seehofers Vorstellung von Heimat gehört so oder so ins Museum. Der Islam gehöre nicht zu Deutschland, sagte er mal in einem Interview. Die Worte entlarven ihn: Für Seehofer ist Heimat immer auch Ausgrenzung all derer, die nicht in das Bild seiner geliebten deutsch-christlichen Leitkultur passen. Was immer er damit meint.

Wenn mich jemand fragen würde, nehmen wir zum Beispiel einen Touristen aus den USA, wo meine Heimat ist, wäre meine erste Antwort sicher nicht Deutschland. Sie wäre vielleicht „Wesermarsch“ oder „Der Norden“. Ganz sicher aber „Europa“. Für mich bedeutet Heimat nicht unbedingt ein fester Ort auf einer Landkarte – diese Vorstellung finde ich antiquiert. Heimat, das sind für mich Menschen, die dieselben Werte und Überzeugungen teilen wie ich. Menschenrechte und Demokratie, Solidarität, Respekt, Selbstverwirklichung, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Kurz: das, was Europa ausmacht.

Was ich neulich gelesen habe, hat mich gefreut: Junge Europäer bekennen sich wieder stärker zur EU. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der TUI-Stiftung, die vor kurzem vorgestellt wurde. Gleichzeitig aber, und das ist die weniger tolle Nachricht, zweifeln die Jugendlichen an den europäischen Institutionen. Nur jeder Dritte vertraut den EU-Institutionen wie dem Europa-Parlament oder der EU-Kommission.

Ein offenes Europa für mehr Freiheit

Offene Grenzen für Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen: Das Friedensprojekt Europa hat Großartiges hervorgebracht. Etwa einen gemeinsamen Binnenmarkt mit über 500 Millionen Menschen – die größte Handelszone der Welt! Die EU gibt ihren Mitgliedstaaten eine stärkere Stimme. Zum Beispiel: Wenn die (noch) 28 EU-Länder geschlossen gegen den Datenklau von Facebook protestieren, hat das eine ganz andere Dimension, als wenn sich Deutschland alleine zur Wehr setzen würde.

Ich erinnere mich noch gut: Vor ungefähr drei Jahren saß ich in einer Vorlesung zur „Europäischen Integration“. Thema: Brexit. Mein Politik-Professor versprach uns Studierenden, er werde das Thema neutral und emotionslos behandeln. Was in den folgenden 90 Minuten passierte, war das genaue Gegenteil. Er hielt ein flammendes Plädoyer für die Europäische Union, wild gestikulierend, die Stimme erhoben. Seine Emotionen konnte er nicht verbergen. Nicht bei Europa. Ich kann es ihm nicht verübeln.

Friedensprojekt ist in Gefahr

Doch das Projekt Europa ist in Gefahr. Nicht zuletzt deshalb, weil bald zum ersten Mal in der Geschichte der EU ein Mitgliedstaat austritt. Die europäische Gemeinschaft, die einst strahlend hell leuchtete, erlebt ihre wohl dunkelste Stunde. Und rechtspopulistische Parteien wettern munter weiter gegen die europäische Idee.

Wenn die Rechten „mehr Nationalismus“ schreien, müssen wir lauter sein als sie. Mit wehenden Europa-Fahnen müssen wir ihnen entgegentreten, tanzend zu Beethovens „Ode an die Freude“. Was für ein tolles Bild. „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt“, heißt es in der Europahymne. Für mich bedeutet das auch: Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Pluralismus leben, anstatt ihn zu verleugnen. Das ist Heimat. Wer das nicht versteht, hat Europa nicht verstanden.

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