Foto: Steffen Flüchter

Shanty, Punk und Bier. Viel Bier.

Stellt euch mal vor, zwei Tage und Nächte lang fallen das Abi-Jahrgangstreffen, Onkel Gerds 50. Geburtstag, Kindergarten-Sommer- und Schützenfest zusammen. Neben Bratwurst gibt es veganes Chili, und statt belegter Brötchen wird lieber flüssig gefrühstückt. Auf der Bühne stehen weder die Flippers noch Tabaluga, sondern regional und international erfolgreiche Punkbands sowie zwei Shantychöre, die das schwarzbunt gemischte Publikum vom Winzling bis zum Rentner zum Hüpfen bringen. Klingt komisch? Geht doch gar nicht? Dann empfehle ich euch einen Besuch auf dem Fonsstock, das Punk-Festival am Weserdeich in Nordenham. Seit 25 Jahren dreht sich einmal im Jahr alles um Party, Punk und Pogo. Ok, und um Shantys. Und Bier. Viel Bier.

Auf dem Weg zum Festivalgelände laufe ich an einer Familie mit zwei kleinen Jungs vorbei. Von der Mauer, die das Gelände von der Straße trennt, erhaschen sie einen guten Blick auf die Bühne. Eine halbe Stunde später denke ich: „Die vier hätten auch gut mitten in das Festival gepasst.“ Denn keine zwei Schritte hinter dem Eingang wird mir klar, dass das Fonsstock kein normales Festival ist. Den ersten Eindruck lasse ich wirken: Fischbrötchen, Burger, Bratwurst. Eis, veganes Chili und Craft Beer. Dazwischen bunt gemischtes Publikum und zu meiner großen Überraschung: viele Familien mit Kindern. Überall wuselt es, ein kleines Mädchen spielt übers ganze Gesicht strahlend mit einem aufgepusteten Wasserball, die großen Lärmschutz Kopfhörer auf ihren kleinen Ohren scheinen sie nicht zu stören. Die Atmosphäre erinnert mich irgendwie an ein Familienfest. Nur mit deutlich mehr Alkohol.

Von der Gartenparty zum Festival

Mit einer Geburtstagsparty im Garten fing vor 25 Jahren alles an. (Foto: Privat)

Hier weht wirklich ein ungewöhnlicher Festival-Wind. Das könnte an der besonderen Entstehungsgeschichte liegen: 1994 stecken einige Oberstüfler im Gymnasium Nordenham die Köpfe zusammen und planen den 19. Geburtstag von Igor (Ingo Berends) und Fons (Sascha Killmer). Die Band spielt damals auf dem Dach der fonsischen Garage, 89 Gäste pflügen Familie Killmer beim Pogen den Garten um. Fons‘ Eltern tragen die feiernde Meute mit Fassung, weniger jedoch die Nachbarn. Mit herbeigerufener Polizei machen sie den geladenen Gästen viel zu früh einen Strich durch die Rechnung. Das kann doch einen Punkfan nicht erschüttern, denkt sich auch die Fonsstock-Crew. Im Jahr darauf muss Igors Garten 150 Gäste ertragen. Im vierten Jahr stellt sich die Gretchenfrage: Soll aus der privaten Punk-Sause eine öffentliche werden? Jo, soll sie. Aus einer Geburtstagsfeier entwickelte sich das Festival, das seit 2001 auf der Osterwiese am Weserstrand in Nordenham stattfindet.

Der Shantychor hat den Punk 

Das Festival, die Stadt und der Chor – das ist ganz große Liebe. Seit vielen Jahren gehört der Nordenhamer Shantychor zum Fonsstock-Inventar. Zur Verstärkung haben sie sich gleich noch einen zweiten dazugeholt – nämlich den Shantychor aus Rodenkirchen. Die Jungs aus der Gemeinde Stadland sind unter den

Trotz Sonnenbrille nicht inkognito. (Foto: Arnd Hartmann)

Festivalgästen mit traditionell blau-weiß gestreiften Fischerhemden, klassisch rotem Viereckstuch mit weißem Knoten und den schwarzen Seemannskappen nicht zu übersehen. „Seid ihr wirklich ein Shantychor?“, frage ich einen Sänger ungläubig. „Ja, wieso?“, bekomme ich zu hören. Ja, wieso frage ich eigentlich? Zum einen scheinen sie den Shantychor-Altersdurchschnitt deutlich zu senken, zum anderen tragen viele von ihnen Patches, die man sonst nur auf den Kutten von Heavy-Metal- oder Punk-Fans findet. Einer trägt Psycho auf dem Oberarm, der nächste Wacken und wieder ein anderer einen Aufnäher der Toten Hosen. Auf der Osterwiese in Nordenham ist an diesem Wochenende wirklich alles möglich. 

Smoke on Madagaskar 

Auch der Shantychor Nordenham überzeugt backstage mit Trinkfestigkeit und auf der Bühne mit einer tollen Show. Beim traditionellen Auftritt am Samstag spielt zwar das Wetter nicht mehr so richtig mit, aber den Regen interessiert hier niemanden. Hunderte Punkfans feiern die Sänger und Instrumentalisten wie Helden und grölen lauthals Shantys mit, die sie unter normalen Umständen vermutlich nicht für Geld hören würden. Als dann auch noch das Gitarrenriff von „Smoke on the Water“ von Deep Purple quer über das Gelände schallt und der Chor dazu „Wir lagen vor Madagaskar“ singt, gibt’s für die Festivalisten vor der Absperrung kein Halten mehr – ein 1A Mashup, das ordentlich knallt. Den Shanty-Jungs reicht das aber noch nicht. Zum großen Finale kommen sie kurz vor Schluss noch einmal zur Band „The Porters“ auf die Bühne. Schon vor dem Festival haben sie mit der Folk-Punk-Band „Last Shanty“ aufgenommen, den sie Samstagabend gemeinsam auf der Bühne live performen. Unter tosendem Jubel geht ein bombastisches und erfrischend anderes Festival zu Ende. „Unser Auftritt bei Fonsstock ist für uns der schönste des Jahres“, sagt Michael Niedzella, 1. Vorsitzender. Daran habe ich nach diesem Wochenende keinen Zweifel mehr.

Der Shantychor Nordenham rockt das Fonsstock-Festival. (Foto: Steffen Flüchter)

Der “Spirit”

Von Anfang an sind nicht Kommerz und Gewinn das Ziel. Fonsstock soll Spaß machen, familiär sein, sowohl für Gäste als auch für die Musiker, erschwinglich bleiben und Gleichgesinnte zusammenbringen. All das ist nur möglich dank der vielen ehrenamtlichen Helfer, die den Fonsstock-Verein bei der Planung und Umsetzung unterstützen. In der gewachsenen Gemeinschaft vermute ich das Geheimnis. Im Grunde ist es ganz egal, ob ich mit Musikern, Festivalgästen oder Ehrenamtlichen spreche. Alle sagen das Gleiche mit unterschiedlichen Worten: Es liegt ein besonderer „Spirit“ in der Luft. „So ein Festival haben Sie noch nie erlebt“, hatte mir auch Michael Niedzella, 1. Vorsitzender des Shantychors Nordenham, im Vorfeld prophezeit. Und er sollte recht behalten: Herzblut, Leidenschaft, Gemeinschaft, gute Musik und Authentizität sind nur einige Begriffe, die mir am Tag danach todmüde durch den Kopf schießen. Definitiv ein Festival zum Wiederkommen.