Foto: Lothar Scheschonka

Unterwegs mit den Seenotrettern

Eine kleine, weiße Tablette ergänzt heute mein Frühstück. „Gegen Übelkeit und Erbrechen, besonders bei Reisekrankheit“, steht auf der Verpackung des Arzneimittels geschrieben. Ich will gewappnet sein für einen besonderen Termin. Denn heute darf ich die Seenotretter der Station Bremerhaven bei einer Ausfahrt begleiten. Und dass ich seefest bin, kann ich leider nicht von mir behaupten…

Das ist wohl nicht die beste Voraussetzung, um Seenotretterin zu werden. Denn sie fahren raus, wenn andere reinkommen – bei jedem Wetter, egal wie hoch die Wellen sind. Aber um sie einen Tag lang zu begleiten, sollte es reichen. „Wenn du auf dem Boot bist, dann ist das wie ein Film, der abläuft. Da kann man nicht mal eben rechts ranfahren und Pause machen“, sagt Andreas Brensing, während wir den Hafen verlassen. „Es geht immer weiter, ob du willst oder nicht.“

Ohne Rettungsweste geht nichts. (Foto: Lothar Scheschonka)

In seinen 25 Jahren als Seenotretter sei er nur ein einziges Mal seekrank geworden, erzählt mir Andreas Brensing. Ansonsten kenne er das Gefühl nicht. Ich kenne das Gefühl schon. Und hoffe, dass meine Tablette nicht vorzeitig die Wirkung verliert. Denn trotz gutem Wetter wird es noch ganz schön schaukelig werden.

Andreas Brensing ist an diesem Tag diensthabender Vormann, hat also das Kommando auf der „Hermann Rudolf Meyer“ – einem von 60 Seenotkreuzern und -booten der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Mit an Bord sind außerdem Tobias Lindhorst, zweiter Vormann, und Maschinist Stev Klöckner. Uwe Kähler ist freiwilliger Seenotretter von der Station Fedderwardersiel. Der 60-Jährige hilft in dieser Woche auf der „Hermann Rudolf Meyer“ aus. Denn der Seenotkreuzer muss rund um die Uhr mit vier Personen besetzt sein. Jeden Tag, jede Nacht. Immer bereit für den nächsten Einsatz.

Wenn du auf dem Boot bist, dann ist das wie ein Film, der abläuft. Da kann man nicht mal eben rechts ranfahren und Pause machen. Es geht immer weiter, ob du willst oder nicht.

Andreas Brensing, Seenotretter

Vormann Andreas Brensing und ich am Steuerstand. (Foto: Lothar Scheschonka)

Die DGzRS wurde 1865 in Kiel gegründet. Zuvor gab es bereits mehrere private Rettungsvereine von Emden bis Danzig, die dann zur DGzRS vereint wurden. Der Gründung waren mehrere Schiffsunglücke vorangegangen, bei denen viele Menschen ums Leben kamen. Eine der entscheidenden Anstöße gab die Strandung der Brigg „Alliance“ vor Borkum am 10. September 1860. Der Segler lief während eines starken Herbststurms auf Grund. Da es noch an jeglichen Einrichtungen zur Rettung Schiffbrüchiger fehlte, scheiterten alle Versuche, Hilfe zu organisieren. Neun Seeleute fanden damals den Tod.

55 Stationen an Nord- und Ostsee

Heute gibt es in Deutschland 55 Stationen an Nord- und Ostsee zwischen Borkum und Ueckermunde in Mecklenburg-Vorpommern. Die Seenotleitung sitzt in Bremen – dort gehen die Notrufe ein. Fast Tausend Seenotretter sind bei der DGzRS aktiv – 800 davon ehrenamtlich. Die Bremerhavener Station hat neun Berufsseenotretter und 29 Freiwillige. Ihr Revier erstreckt sich über die stark befahrene Außenweser bis in die Deutsche Bucht.

„Die Hermann Rudolf Meyer geht auf eine Kontrollfahrt in Richtung See“, nuschelt Brensing in ein Funkgerät. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Von dem oft so grauen Wetter in Bremerhaven ist heute nichts zu merken. Wir haben klare Sicht auf die Küste, die rechts an uns vorbeizieht, fahren vorbei am Atlantic-Hotel, am Zoo und schließlich am Containerhafen. Auf der linken Seite liegt die Wesermarsch.

Ab auf Kontrollfahrt! (Foto: Lothar Scheschonka)

Die festangestellten Seenotretter sind jeweils 14 Tage lang rund um die Uhr an Bord. Anschließend haben sie 14 Tage frei. Die „Hermann Rudolf Meyer“ ist gut 23 Meter lang und sechs Meter breit. Es gibt einen kleinen Aufenthaltsraum mit einer Kochnische, einer Sitzecke und einem Fernseher. Ein Deck höher ist der Steuerstand. Im unteren Teil des Kreuzers befindet sich der Maschinenraum.

Der Maschinenraum ist das Reich von Stev Klöckner. Er sorgt im wahrsten Sinne des Wortes dafür, dass „alles läuft“. Als ich mit ihm vor der Abfahrt über eine kleine Leiter in den Maschinenraum hinabgestiegen bin, war es noch relativ ruhig. Jetzt, wo die „Herrmann Rudolf Meyer“ voll im Gange ist, kann von „ruhig“ keine Rede mehr sein. Als der Maschinist die massive Tür öffnet, hämmert und wummert es. Eine Wand warme Luft kommt mir entgegen – im Maschinenraum wird es locker mal über 40 Grad warm. Dank automatischer Maschinenraumüberwachung muss Klöckner aber nur in den Maschinenraum hinabsteigen, wenn es irgendein technisches Problem gibt.

Während des 14-tägigen Einsatzes schläft die Besatzung in kleinen Kabinen – jeder hat seine eigene mit einer kleinen Koje, einem Schreibtisch und einem Waschbecken. Die Kabinen sehen gemütlich aus. Aber die Vorstellung, hier zwei Wochen lang auf engstem Raum zu leben, finde ich bedrückend.

24/7 mit den Kollegen

„Das ist nicht so einfach“, sagt auch Andreas Brensing. Jeden Tag 24 Stunden lang mit seinen Kollegen zusammen sein – das ist nicht für jeden etwas. „Da muss sich jeder ein Stück weit zurücknehmen“, sagt Andreas Brensing. Das Schiff verlassen können die Seenotretter nur bedingt – sie müssen stets in fünf Minuten an Bord sein können, wenn ein Notruf eingeht.

Ein normaler Tag an Bord beginnt um 7.30 Uhr mit dem Frühstück. Mittagspause ist von 12 bis 15 Uhr. „Nach dem Mittagessen legen wir uns immer nochmal hin“, erzählt Tobias Lindhorst. Klingt ja eigentlich ganz entspannt, denke ich mir. Aber Lindhorst erklärt: „Man weiß ja nie, was die Nacht bringt. Wenn man da zu einem Einsatz raus muss, ist man froh, wenn man mittags nochmal zwei Stunden geschlafen hat.“ So ein Einsatz kann bis zum nächsten Morgen dauern. Und dann müssen die Seenotretter funktionieren.

Tobias Lindhorst und Andreas Brensing auf der Kommandobrücke. (Foto: Lothar Scheschonka)

Immer mit an Bord sind die treuen Maskottchen der Seenotretter. Zwischen den Radarbildschirmen und der Seekarte auf der Kommandobrücke entdecke ich eine Stofftier-Robbe und einen -Dackel. Ein paar Teddys gibt es auch – alle vorbildlich mit Rettungsweste bekleidet. „Die gehen auch schon mal über Kopf, wenn es etwas schaukeliger wird“, erzählt Andreas Brensing. „So weit, dass wir denen Namen geben oder mit ihnen sprechen sind wir aber noch nicht“, sagt der Vormann und lacht.

Zu durchschnittlich 50 Einsätzen wird die „Hermann Rudolf Meyer“ jedes Jahr gerufen. Damit im Ernstfall alles klappt, führen die Seenotretter ständig Wartungsarbeiten durch, überprüfen die Technik laufend. Jeden zweiten bis dritten Tag fährt die „Hermann Rudolf Meyer“ zu einer Kontrollfahrt raus. Dabei geht es auch darum, stets mit dem Revier vertraut zu bleiben. „Die Nordsee verändert sich ja ständig“, erklärt Andreas Brensing.

Die Gründe für einen Einsatz der Seenotretter reicht von Motorproblemen und festgefahrenen Booten über Schiffsbrände bis hin zu Mann über Bord. Manchmal müssen erkrankte oder verletzte Personen vom Schiff abgeholt werden. Mal stürzt sich jemand ins Wasser, der sich das Leben nehmen will.

Die „Hermann Rudolf Meyer“ hat einen Tiefgang von 1,60 Metern. Wenn besonders flaches Gewässer durchquert werden muss, kommt die „Christian“ zum Einsatz. Das sieben Meter lange Tochterboot wird in der Heckwanne des Kreuzers mitgeführt und bei Bedarf ins Wasser gelassen.

Das hat was von Wildwasserbahn fahren

Genau das üben wir jetzt. Zusammen mit Tobias Lindhorst und Uwe Kähler klettere ich in das kleine Boot. Und dann heißt es festhalten. Die Heckklappe öffnet sich und die „Christian“ gleitet in die Außenweser. Wasser spritzt hoch. Und dann brettern wir los. Auf dem Rettungsboot ist es deutlich kabbeliger, als auf dem Kreuzer. Tobias Lindhorst steuert frontal in die Wellen des Kreuzers. Ich muss mich ganz schön festkrallen. Wasser klatscht mir ins Gesicht. Hat ein bisschen was von Wildwasserbahnfahren. Es macht sogar richtig Spaß.

Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich bei solchen Umständen klaren Kopf bewahren und konzentriert arbeiten muss – und das womöglich über viele Stunden? Völlig undenkbar. Mir wird ja schon schlecht, wenn ich im Auto versuche, ein Buch zu lesen.

Eines steht nach einem aufregenden Tag mit vielen neuen Eindrücken an Bord der „Hermann Rudolf Meyer“ fest: Seenotretterin werde ich in diesem Leben nicht mehr. 14 Tage rund um die Uhr einsatzbereit zu sein und auf engstem Raum zu leben, im Ernstfall stundenlang den Kräften der See ausgesetzt zu sein – das wäre einfach nichts für mich. Umso beeindruckter bin ich nach diesem Tag von dem, was die Seenotretter bei ihrer wichtigen Arbeit leisten. Immer mit dem Ziel, anderen Menschen zu helfen, die in Not geraten sind.

Die DGzRS finanziert ihre Arbeit ausschließlich durch Spenden und freiwillige Zuwendungen. Steuergelder vom Staat erhalten die Seenotretter nicht.

Wer die DGzRS unterstützen möchte, findet hier weitere Informationen.