Foto: Hartmann

Sex sells – auch im Watt?

Das Wörtchen “Ebbe” möchte im Zusammenhang mit Sex niemand hören. Bei Wattführer Matthias Schulz in Eckwarderhörne sieht das anders aus: Ebbe ist geradezu ein Muss. Wenn die Nordsee einen Strip hinlegt und den schönsten Schlick der Welt entblößt, führt er Wattwanderer ein in das kuriose Sexualleben der tierischen Matschbewohner.

“Liebesrausch im Weltnaturerbe Wattenmeer” heißt die Wattwanderung, die manch einem Gast die Schamesröte ins Gesicht treibt. Matthias Schulz kommentiert das, was dort unten in der Horizontalen passiert, locker, lustig, immer mit einem deftigen Spruch auf den Lippen. Anspielungen auf das menschliche Sexualverhalten sind sein Spezialgebiet. Nicht umsonst ist die Wanderung FSK 16 – nichts für Kinderohren.

Beachies, die sogenannten Wattsocken, sind das Fuß-Bekleidungs-Accessoire der Wahl. (Foto: Hartmann)

Dieses Mal wird es besonders intim, denn nur Karolin und Freund Oliver aus Sachsen machen sich mit Schulz auf in das Abenteuer zu dritt. Ungewöhnlich ist: Karolin meldete das Paar für diese Spezial-Wattwanderung an. „Normalerweise buchen Männer die Tour und müssen ihre Frauen überreden“, erzählt Schulz. Karolin aber macht sich selbstsicher in Wattsocken, den sogenannten Beachies, hinter dem Wattführer auf den Weg in den kühlen Schlick. Olli hingegen streckt erst mal vorsichtig den großen Zeh vor. „Igitt! Wie sich das anfühlt, sag ich jetzt lieber nicht“, ruft er mit charmant sächsischem Dialekt seiner Freundin hinterher. Er denkt ja wohl nicht schon jetzt an etwas Unanständiges…

Tod und Obdachlosigkeit

Nach nur wenigen Metern bleibt Matthias Schulz das erste Mal stehen und lenkt den Blick des Paares vom Horizont vor die eigenen Füße. Gleich die ersten Hauptdarsteller spielen ein brandgefährliches Liebesspiel. Das könnte vor allem den Herren der Schöpfung, wenn nicht das Leben, dann aber das Häuschen kosten. Schulz setzt Karolin einen kleinen Einsiedlerkrebs auf die Hand, während Olli lieber mit Abstand das zwei Zentimeter große Tier anschaut. So ein Krebs hat es wirklich nicht leicht: Um die Auserwählte zu beglücken, muss Herr Einsiedlerkrebs das von ihm unrechtmäßig besetzte Schneckenhaus verlassen. Ist Herr Einsiedlerkrebs allerdings gut bestückt, kann er gemütlich zuhause bleiben. Die weniger gut ausgestatteten Krebs-Herren schauen gleich doppelt in die Röhre. Nicht nur sind die Hausbesetzer ohne die gestohlene Hütte ungeschützt, „mit Pech haut in der Zeit auch noch ein anderer mit dem Haus ab“, erklärt Schulz. Recht so, mag der eine oder andere jetzt denken. Doch Tod und Obdachlosigkeit nehmen sie für die schnelle Nummer in Kauf. Ohne Zweifel ist die Penislänge hier „ausnahmsweise“ mal von entscheidender Wichtigkeit und als Haus- und Lebensversicherung zu verstehen. Den Größten von allen hat übrigens der Blauwal – mit einer Länge von bis zu drei Metern und einem Durchmesser von 30 Zentimetern kennt er solche Probleme nicht.

Mit der Mistgabel befördert Schulz allerlei Verstecktes zu Tage. (Foto: Hartmann)

Ausdauersport

Karolin reicht die Theorie nicht. Drei Einsiedlerkrebse setzt sie zueinander, sechs Augenpaare starren erwartungsvoll auf die kleinen Schneckenhäuser. Doch aus dem arrangierten Tête-à-Tête wird nichts. Die drei stoben auseinander. „War´s das schon?“, fragt Olli in die Runde. „Das fragt meine Frau auch immer“, erwidert Schulz trocken. Matthias Schulz zieht die Forke aus dem Boden, stapft weiter durch den kühlen Schlamm voraus. Er lässt das lachende Paar hinter sich. Mit dieser Frage werden sich allerdings wohl einige Herren herumplagen müssen. Australische Wissenschaftler stellten nämlich in einer Studie fest, dass der Liebesakt beim Menschen durchschnittlich gerade einmal 5,4 Minuten dauert. Kleiner Hinweis: An den Frauen liegt es nicht. Die Stabheuschrecke lebt da das genaue Gegenteil. Sie ist Rekordhalter und schafft sagenhafte zehn Wochen. Ob das besonders erstrebenswert ist, sei mal dahingestellt.

Der Wattführer

Matthias Schulz bei der Arbeit – Er ist der Erklärbär für alles, was im Wattenmeer passiert. (Foto: Hartmann)

Der Wattführer ist groß und breit – im Grunde ein Bär von Mann – trägt Brille und einen Zwei- bis Drei-Tage-Bart. Niemand, mit dem man in der Fantasie auf den ersten Blick im Schlick über Sex sprechen wollte. Doch der freundliche Gesichtsausdruck täuscht nur kurz über den Schalk im Nacken hinweg. Ein paar Meter weiter sticht Matthias Schulz die Mistgabel schwungvoll in den Boden. Mit ihr befördert er einen der wohl berühmtesten Watt-Bewohner ans Tageslicht: „Das hier sind 20 Zentimeter oder acht Grad Wassertemperatur“, sagt er mit einem ungefähr zehn Zentimeter großen Exemplar auf der Hand. 20 Zentimeter. Sorry, aber. Nein.

Kinderstube: Klo

In einem „U“ unterhalb der Wattoberfläche lebt er, der Wattwurm. Die eine Hälfte dient als Wohnung, die andere als Toilette und Kinderstube. Ziemlich eigentümliche Raumaufteilung. Der auf der einen Seite angesaugte und nach Nährstoffen gefilterte Sand wird in der zweiten Wohnungshälfte ausgeschieden. Ist sie voll, wird einmal ordentlich gespült. Das Prinzip ist bekannt. Der Wurmkot verziert seit jeher als Spaghettihaufen die Weiten des Watts.

Der Wattwurm ist wohl der bekannteste Wattbewohner – zumindest seine Häufchen hat jeder schon einmal gesehen. (Foto: Hartmann)

Das Männchen gibt neben Kot auch Spermien an die Oberfläche ab. Die gelangen in das Klo der Wurmdame, die erregt ihre Eizellen dazulegt. Bis zum Larvenstadium bleibt der Nachwuchs, wo er ist. Danach zieht er hinaus in die Welt. Wieder einmal stellt sich die Frage nach der Mutterschaft nicht. Wer der Vater ist, liegt jedoch, wie beim Menschen hin und wieder auch, im Dunkeln. „Mama, wer ist unser Papa?‘ ‚Weiß ich nicht. Frag die Nachbarn!“, höre man hier und da in hitzigen Vaterschaftsdebatten, erzählt Schulz.

Olli steht den ganzen Krabbelviechern aus dem Watt eher skeptisch gegenüber. Doch dem Wattwurm kommt auch er recht nah. (Foto: Hartmann)

Die Zahl der menschlichen Kuckuckskinder ist übrigens jahrelang viel zu hoch eingeschätzt worden. Metastudien haben ergeben, dass maximal zwei Prozent der Väter weltweit ein Kuckuckskind aufziehen. Diejenigen, die zweifeln und einen Vaterschaftstest veranlassen, liegen aber in 25 bis 30 Prozent der Fälle richtig. Der Zugang zu Labortests ist für Wattwürmer denkbar schlecht. Daher bleibt am Ende doch nur der Weg zum Nachbarn.

Sex sells?

Vor über 20 Jahren machte Matthias Schulz sein Hobby zum Beruf. Seitdem ist der staatlich geprüfte Wattführer von Februar bis November fast jeden Tag mit Leidenschaft im niedersächsischen Nationalpark Wattenmeer unterwegs, bei Wind und Wetter, egal, ob 38 Grad in der Sonne oder Regen von der Seite. Sexualunterricht im Watt ist für ihn trotz jahrelanger Erfahrung Neuland – auch wenn der Jadebusen eigentlich dazu einlädt. Auf der gegenüberliegenden Seite wird in diesem Jahr ebenfalls bei „Watt ohne Tabus“ oder „Frühlingsgefühle im Wattenmeer“ das frivole Leben der Schlickbewohner gefeiert. Das kann doch kein Zufall sein! Ist es auch nicht. Zum Jubiläum anlässlich von zehn Jahren UNESCO-Welterbe Wattenmeer sollte es in der Region Nordsee dieses Jahr ein ganz besonderes Thema geben. Doch ob die alte Marketingweisheit „Sex sells“ auch im schwarzgrauen Wattenmeer gilt? Finanziell lohne sich diese besondere Tour nicht, aber sie mache ihm großen Spaß, erzählt Schulz. Und ganz nebenbei rückten Lebewesen in den Fokus der Urlauber, die zwischen den Stars der Nordseeküste, wie kuschelige Kegelrobbenbabys und Krabbenbrötchen, in der Öffentlichkeit eher den Kürzeren ziehen.

Mit dem Kinderkescher ist Matthias Schulz auf der Suche nach allem, was im Watt kreucht und fleucht. (Foto: Hartmann)

Doppelläufige Pistole

So wie die Strandkrabbe, die gleich mit zwei Geschlechtsteilen beeindruckt. „Ich bin in zwei Minuten wieder da“, sagt Schulz und zieht eine Weile den Kinderkescher über den Boden der von der Sonne aufgewärmten,

Karolin inspiziert die männliche Strandkrabben-Leiche. Männlich? Das erkennt man daran, dass die Bauchplatte spitz zuläuft. (Foto: Hartmann)

knöcheltiefen Salzwasser-Pfütze – auf der Suche nach mehr oder weniger lebendigem Anschauungsmaterial.. „Ich hab da mal zwei Leichen organisiert“, sagt er mit zwei leblosen Krebstieren zwischen den Fingern. „Die Männchen sind spitz. Die Frauen eher rund“, kommentiert er verschmitzt die Bauchklappen, die die Geschlechtsorgane verbergen.

 

Gleich zwei Geschlechtsteile hat die Strandkrabbe. Doch man muss schon genau hinsehen, um sie auch zu finden. (Foto: Hartmann)

„Kommt mir bekannt vor“, wirft Olli murmelnd ein, „gebärfreudiges Becken und so.“ Schulz klappt die spitz zulaufende Panzerplatte des Männchens auf und entblößt die doppelläufige Pistole. „Das ist aber nicht einer für die Woche und einer fürs Wochenende“, erklärt er und lacht. Bis sie aber zum Einsatz kommen, ist Schwerstarbeit angesagt. Für zwei bis drei Wochen trägt das Krabbenmännchen das Weibchen in Missionarsstellung mit sich herum, bis sie sich gehäutet hat und entsprechend weich ist. Vorbildliches Engagement! Mit dem kostenlosen Work-Out schützt er sie zudem vor Angriffen. Die Strandkrabbe schleppt aber nicht nur seine Auserwählte durch das Watt.

Penis-Championsleague

Wo sich die zwittrige Seepocke einmal niederlässt, da bleibt sie auch. Der kleine Schmarotzer richtet sich gerne auf der Strandkrabbe in Gruppen häuslich ein und genießt Shuttle-Service durch die Nordsee. Einmal angedockt, kann sich das kleine Krebstier allerdings nicht mehr bewegen. Was auch die monströse Ausstattung der Seepocke erklärt – der Penis erreicht das Achtfache der eigenen Körpergröße. Relativ dazu spielt sie im Tierreich damit in der Penis-Championsleague. Aber wen wundert das, wenn der Rüssel bis ins Haus des Nachbarn reichen muss. Der deutsche Durchschnittspenis hingegen ist „nur“ 14,52 Zentimeter lang, gerade einmal 8,02 Prozent im Verhältnis zur durchschnittlichen Körpergröße von 1,80 Metern. Damit landen sie im weltweiten Ranking auf Platz 41 – wohl eher Regionalliga-würdig.

Bewusstsein schaffen

Neben dem Spaß an der Sache hat diese ungewöhnliche Führung aber auch einen ernsten Hintergrund. Das empfindliche Ökosystem Wattenmeer ist fein austariert, auf jedes noch so kleine Lebewesen kommt es an. Optimale Lebensbedingungen und damit auch optimale Bedingungen für die Fortpflanzung sind wichtig, damit auch weiterhin alle Rädchen ineinandergreifen können. Auf einer Fläche von 1100 Quadratmetern über drei Staaten verteilt, mit mehr als 10.000 Tier- und Pflanzenarten und 10 bis 12 Millionen Zugvögeln ist das Wattenmeer ein einmaliger Lebensraum, ein Sinnbild der Biodiversität, das leicht durch Menschenhand zerstört werden kann. „Eine Ölkatastrophe und das war’s“, sagt Schulz, der bemüht ist, Bewusstsein für die Einzigartigkeit des Wattenmeers zu schaffen.

Ruhiges Nachspiel

Obwohl es hier die meisten Tiere ziemlich skurril treiben, hat im Watt kein Tier wirklich Spaß an Sex. Das behauptet zumindest Schulz. Es gehe ausschließlich um Fortpflanzung, erklärt er: „Zumindest habe ich hier die letzten 21 Jahre keine Kondome gefunden. Also nicht von Tieren.“ Das Nachspiel ist gewohnt ruhig, ein bisschen Kuscheln und Smalltalk.

Gemeinsam erkunden Karolin und Olli die Watt-Welt unter ihren Füßen. (Foto: Hartmann)

Auf dem Rückweg ist schon von weitem das rote Leuchtfeuer zu sehen, an dem vor knapp zwei Stunden die Tour begann. Doch kaum einer sieht hin, auch das Paar aus Sachsen nicht. „Am Anfang schauen die Wanderer immer in die Ferne, auf dem Rückweg fixieren die meisten den Boden“, beschreibt Matthias Schulz das Phänomen. Das faszinierende Leben im Watt findet eben dort unten statt.