Foto: Agnieszka Boeske/Unsplash

Hygge: Warum die Dänen so glücklich sind

Die Welt dreht sich schneller und schneller. So schnell, dass ich manchmal das Gefühl habe, nicht mehr hinterherzukommen. Immer muss ich erreichbar und auf dem neusten Stand sein. Eigentlich ein Luxusproblem, ich weiß. Dennoch möchte ich Pause machen und wieder zu mir selbst kommen, mich aber gleichzeitig aufgehoben und geborgen fühlen. Geht das heute überhaupt noch? Oder will ich zu viel?

Wenn man sich die weltweite Glücksskala anguckt, will ich nicht zu viel: Seit Jahren stehen die skandinavischen Länder dort immer wieder ganz oben. Allen voran: Dänemark. Aber was ist es, das die Dänen und den Rest des hohen Nordens so zufrieden macht?

Das Geheimrezept heißt anscheinend „Hygge“, die dänische Umschreibung für Gemütlichkeit. Ein Stück Alltagskultur, das nicht nur in den offiziellen Kulturkanon des Landes aufgenommen wurde, sondern über soziale Medien zum regelrechten Hype avancierte. Besonders im Wohnbereich.
Doch was ist dran am „danish way of living“? Kann Hygge, was der Ruf verspricht? Oder ist schönes Design alles, was wir uns von den Dänen abgucken können?

DIE KLEINEN DINGE IM LEBEN

Diplom-Psychologin Birgitta Thiel. (Foto: Privat)

„Hygge transportiert eine Lebensphilosophie, die uns anhält, die kleinen Dinge im Leben zu fokussieren und ihnen gegenüber achtsam zu sein“, sagt Birgitta Thiel, Diplom-Psychologin aus Hamburg. „Es sich hyggelig machen heißt zum Beispiel, ein paar Kerzen anzuzünden, eine Tasse Tee zu kochen und sich in eine Decke zu kuscheln.“ Kleine Rituale, die den Alltag entschleunigen und einen zuverlässigen Gegenpol zu seinen Herausforderungen bilden, fasst sie die Bedeutung zusammen. Im Nachbarland Schweden heißt diese Art zu Leben „Lagom“.

Warum Ausgleich aus psychologischer Sicht so wichtig ist? „Weil er dafür sorgt, dass das Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung eingehalten werden kann“, erklärt Thiel, die beruflich oft mit Burnout-Patienten zu tun hat. „Ein hohes Arbeitsvolumen und Burnout hängen nicht so stark voneinander ab, wie man denken könnte. Entscheidender sind Faktoren wie Gestaltungsfähigkeit, Sinnhaftigkeit und Sicherheit. Also das Gefühl, die Arbeit auch schaffen zu können.“

Ist all das nicht oder nur wenig gegeben, könne das bei Betroffenen im Schlimmstfall zu körperlicher und seelischer Erschöpfung führen. „Im Gespräch mit meinen Patienten vergleiche ich das immer mit einem Bären, der permanent ums Haus schleicht und mich innerlich nicht mehr ausreichend zur Ruhe kommen lässt. Dieser Bär kann erst dann wieder verschwinden, wenn wir bewusster leben, uns selbst gegenüber achtsamer sind und somit unsere Stresshormone wieder auf ein gesundes Level bringen.“

FRÜH ÜBT SICH DIE ACHTSAMKEIT

Heutzutage sind es vor allem jüngere Menschen, die auf flexible Gestaltungsmöglichkeiten im Arbeitsbereich und genügend Familienzeit achten, weiß Thiel aus eigener Erfahrung oder aus Gesprächen mit anderen Psychologen.

„Es findet gerade ein Generationenwechsel statt – und damit auch eine Umstrukturierung auf dem Arbeitsmarkt: Die, die gerade mit dem Studium oder der Ausbildung fertig sind, wollen nicht mehr bis nachts im Büro sein und ihre Familie deswegen abends nicht mehr zu Gesicht bekommen – so wie es vielleicht bei ihren Vätern der Fall war. Ich finde das einen schönen und aus meiner Sicht gesunden Trend!“

Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, betont sie, dass diese Lebensphilosophie nicht eins zu eins von Dänemark auf Deutschland übertragen werden kann: „Klar, die Botschaft ist dieselbe – achtsam sein –, aber der kulturelle Stellenwert von Hygge ist ein anderer. Die beiden Länder bringen unterschiedliche Vergangenheiten und Voraussetzungen – allein, wenn man ihre Größe beachtet. Die Art zu leben ist eine völlig andere.“

GEMEINSAM ENTSPANNEN

Achtsamkeit auf der einen Seite, Gemeinschaft auf der anderen: Ein weiterer Aspekt von Hygge, der sich positiv auf unsere Psyche auswirkt, sei das gemütliche Zusammensein mit Familie und Freunden. „Dieses Bedürfnis ist evolutionär bedingt und entspricht dem Wunsch nach Zugehörigkeit, Sicherheit und stabilen Netzwerken.“

Hygge: 

warm tea

good books

soft pillows

fine company

Zwanglos sollten solche Treffen allerdings sein, findet die Psychologin. Das habe etwas mit Selbstfürsorge zu tun: „Warum nicht mal fragen, ob die Gäste etwas zu essen mitbringen, anstatt den ganzen Tag über selbst in der Küche zu stehen?“ Sie mache das auch oft so: „Meine Familie und ich leben in einer lockeren und gut funktionierenden Nachbarschaft. Da ist es üblich, sich spontan und unkompliziert auf ein Glas Wein zu treffen und schnell einen Salat zuzubereiten beziehungsweise mitzubringen.” Und zwar das ganze Jahr über: Hygge zu leben und Hygge zu denken, sei nicht nur etwas für den Winter, sondern auch für den Sommer. „Dann setzt man sich eben mit der Picknick-Decke auf die Wiese.“ Stichwort: Lagerfeuerromantik.

Dass sich Birgitta Thiel so gut mit Hygge und dem Thema Stressbewältigung auskennt, liegt nicht nur an ihrem Job: Sie ist selbst Hygge-Fan, den es oft nach Skandinavien zieht. Ihr Haus in Hamburg ist im Skandi-Schick eingerichtet: „Ich hatte schon immer das Gefühl, dass die skandinavische Art, die Dinge anzugehen, deutlich gelassener und gesünder ist“, berichtet sie. „Deshalb bin ich auch so gerne dort. Besonders auf Bornholm.” Auf der Insel finde sie genau das, was sie liebe: „Eine Mischung aus schöner Natur und entspannten Menschen, ein perfekter Ort, um zur Ruhe zu kommen. Und in den Läden gibt es tolle Design-Stücke, schlicht und gleichzeitig elegant. Das spiegelt sich auch in der Einrichtung unseres Hauses wider.“

HYGGE, EIN TREND-PHÄNOMEN

Hygge hat sich in den vergangenen zwei Jahren zu einem Trend-Phänomen entwickelt, insbesondere auf dem Bücher- und Interior-Markt, wo ganze Magazine unter dem Namen veröffentlicht oder unzählige, teils stark überteuerte Produkte angeboten werden. Woher kommt dieses offensichtliche Bedürfnis nach alternativen Lebensphilosophien?

„Vom Grundgedanken her hat Hygge für mich überhaupt nichts mit Materialismus zu tun. So viel möchte ich vorab sagen“, betont Thiel. „Das Gegenteil ist der Fall: In Dänemark werden auch mal Blechdosen bemalt und als Blumentöpfe benutzt. Kostet nichts, ist selbst gestaltet und sieht schön aus. Zu denken, dass man spezielle und vor allem teure Kerzen braucht, um Hygge zu leben, ist einfach falsch.“

Das Bedürfnis an sich habe sicherlich viel mit der Globalisierung zu tun: „Soziale Medien zwingen uns, ständig erreichbar zu sein. Unsere Zuneigung drücken wir durch virtuelle Likes aus.“ All das ist anstrengend und kann auf Dauer nicht funktionieren, sagt sie. „Und echte Netzwerke kann es schon gar nicht ersetzen.“ Insofern ließe sich Hygge durchaus als eine Art Gegenentwurf zur globalisierten Welt bezeichnen. Ähnlich dem sogenannten „Cocooning“, dem „Verpuppen“, das in den 1990er Jahren angesagt war. Ein Trend, bei dem sich Menschen bewusst in die eigenen vier Wände zurückzogen, um den Folgen des Wirtschaftsbooms zu entgehen. Forscher werten Hygge als eine weichere, sozialere Form von Cocooning.

„Die aktuelle politische Lage ist ebenfalls ein Faktor“, fährt die Hamburger Diplom-Psychologin fort. „Wenn sich die obersten Männer der Welt nur darum streiten, wer den größeren Atomwaffenknopf hat, löst das Ängste und Unsicherheiten aus.“ Das erlebe sie auch in ihrer Praxis: „Es ist eine unsichtbare, latente Bedrohung, die sich wieder mit einem schleichenden Bären vergleichen lässt.“ Menschen, die stabile soziale Verbindungen haben, könnten mit diesen Ängsten besser umgehen.

UND DAS HYGGE VOM LIED?

Und nun zur Gretchenfrage: Ist Hygge auch für mich eine Möglichkeit, um mit den Anforderungen klarzukommen, die der hektische Alltag mir bietet? Bedingt, finde ich nach meinem Gespräch mit Birgitta Thiel. Kommt darauf an, was ich draus mache.

Ich war nie so richtig der Skandi-Typ, muss ich gestehen: Lieber bin ich in pulsierenden Städten unterwegs als in der grünen Natur. Das mag für eine gewisse Unrast in mir sprechen. Allerdings bin ich ein großer Befürworter des Gleichgewichts: Ich glaube daran, dass es im Leben um den Ausgleich geht und dass das Einseitige nur in den seltensten Fällen gut ist. Dieser Aspekt ist es, der mich am meisten von Hygge anspricht: Arbeite ich (zu) viel, brauche ich einen Ausgleich. Bin ich erschöpft, muss ich mich ausruhen. Bin ich oft alleine, unternehme ich wieder mehr mit meinen Freunden. Dafür ein stärkeres Bewusstsein zu schaffen und dieses in die Tat umzusetzen, ist mein Ziel. Und vielleicht ja auch mein persönlicher Schlüssel zum Glück.

2 Comments

  1. Peter

    Das hier, zu Hygge, fand ich sehr schön negativ:

    “But I am afraid to say that over the years I have come to detest hygge somewhat. (….) It was (…) hygge’s tyrannical, relentless drive towards middle-ground consensus; its insistence on the avoidance of any potentially controversial topics of conversations; its need to keep things light and breezy – the whole comfortable, self-congratulatory, petit bourgeois smugness of it all.”

    Aus: Michael Booth: The Almost Nearly Perfect People: Behind the Myth of the Scandinavian Utopia.

    1. Janina

      Hallo Peter, ich habe auch in einem Buch von diesem negativen Aspekt gelesen. Zwar ging es um “Lagom” (Schweden) und nicht “Hygge” (Dänemark), aber der Grundgedanke war der gleiche. Wenn man alle Hygge-Vorschläge dieser Welt eins zu eins umsetzen würde, ist anscheinend eine Tendenz zum “Durchschnittsleben” dar, wenn man das so nennen mag. (Wahrscheinlich kann man das nur richtig in Worte fassen, wenn man selbst in Skandinavien lebt). Aber warum sollte man sich eine Art Doktrin auferlegen und alles eins zu eins befolgen? Warum nicht die Aspekte von Hygge raussuchen, die auf einen selbst zutreffen und einem ggf. sogar weiterhelfen? Ich mag ja auch nicht jedes Lied meiner Lieblingsband, um mal einen (mehr oder weniger guten) Vergleich zu ziehen:)

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