Foto: Janina Kück

Die schöne Vergänglichkeit des Seins

Wenn es draußen beginnt, kälter und feucht zu werden. Wenn die ersten Blätter langsam zu Boden fallen und lautstark unter unseren Sohlen rascheln. Wenn das Laub die schönsten Töne der Farbpalette annimmt und wir selbst nicht mehr wohin wissen, mit all diesen schönen Foto-Motiven. Dann ist wieder Herbst. Dann ist eine besonders nachdenkliche, zugleich aber auch schöne Jahreszeit angebrochen, von der wir viel über das Leben lernen können.

Soll ich oder soll ich nicht? Es ist doch so regnerisch und ungemütlich draußen. Soll ich da wirklich rausgehen und einen Spaziergang wagen? Ja, ich soll! Ich habe schon den ganzen Morgen im Bett gelegen, da tut mir ein wenig frische Luft bestimmt gut. Außerdem habe ich gestern die ersten bunten Blätter gesehen. Ich liebe den Herbst einfach. Ich soll nicht nur, ich muss daher auch raus. Dick eingepackt, mit Pullover und Strumpfhose. Ich will nicht wieder krank werden. Das hatte ich erst letzte Woche. Also noch meine rote Regenjacke und meine Gummistiefel dazu. Danach ab in den Bürgerpark.

Bremerhaven, Eine Stadt der Parks

Vorab: Für mich ist Bremerhaven nicht nur eine Stadt, die für das Wasser und die Küste steht, für das Blaue sozusagen. Für mich ist Bremerhaven auch eine Stadt der Parks. Eine Stadt, die grüner ist, als es wohl viele auf den ersten Blick vermuten würden.

Schon unzählige Male bin ich durch die verschiedenen Grünanlagen spaziert und habe dort meinen Gedanken nachgehangen. Durch den Speckenbütteler Park, durch Thieles Garten und durch die vielen anderen verwunschenen Orte, die meist mehr als 100 Jahre alt sind und sich durch ihre Schönheit einen Platz auf der Landesdenkmalliste gesichert haben. Unser Community-Autor Frank hat bereits einen sehr schönen Text zu dieser städtischen Besonderheit geschrieben und darin seiner Liebe zu Bremerhavens grüner Lunge Ausdruck verliehen.

Dieses Mal verschlägt es mich in den nahe gelegenen Bürgerpark, hinter dem Bahnhof. Ich möchte dort ein paar schöne herbstliche Fotos machen und den grün-blaugrauen Schimmer auffangen, der sich durch den Regen über die Skulpturen gelegt hat.

Und tatsächlich: Heute wirkt dort alles verwunschen auf mich. Besonders der Grünspan auf den Holz-Bänken bekommt durch die Wetterlage einen anderen Ausdruck: Als ständen die Bänke schon seit Jahrhunderten hier und warteten darauf, ihre Gäste von damals wieder in Empfang nehmen zu dürfen. Auf den Bäumen, Büschen und Blumen sammelt sich indes immer mehr Regenwasser. Viele fallen dadurch zu Boden. Geräuschlos.

Vom altem und vom neuen

Wenn der Herbst kommt, muss ich oft an zwei weitere Lieben von mir denken, die Kunstgeschichte und die Lyrik: In der bildenden Kunst Europas hatten die Jahreszeiten schon immer eine tiefere Bedeutung. Sie stehen für den ewigen Kreislauf der Natur. Sind Zeichen für Vergänglichkeit und Neuanfang, für Altes und Neues.

Den Vergänglichkeitsgedanken fasst man auch unter „Vanitas” zusammen, einem Wort für die jüdisch-christliche Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Die Auffassung dahinter: Der Mensch hat keine Gewalt über das Leben. So wie die Blätter im Herbst fallen, ist auch er dazu bestimmt, irgendwann hinfällig zu werden.

Früchte zum Beispiel sind in der Kunst ein gerne gemaltes Motiv für den Vanitas-Gedanken: Sie werden als Zeichen für Fruchtbarkeit und Fülle interpretiert, im übertragenen Sinn aber auch für Reichtum und Wohlstand. Dass auch dieser nicht von Dauer ist, wird künstlerisch dadurch umgesetzt, dass appetitlich aussehende Früchte und überreifes, schon angefaultes Obst dicht nebeneinander platziert werden. Etliche Früchte haben darüber hinaus noch eine Bedeutung: Feigen, Pflaumen, Kirschen, Äpfeln oder Pfirsichen stehen zum Beispiel für Erotik.

Im Gegensatz der durch Früchte angedeuteten Fruchtbarkeit, stehen Blätter in der Kunst für Vitalität und Lebenskraft. Blühendes Gezweig ist jedoch ebenso zum Verwelken verurteilt wie das Obst zum Verfaulen. Auf den klassischen Vanitas-Stillleben sieht man daher oft welkende Blumen neben aufblühenden.

Rilke über den Herbst

Mit den zwei Seiten des Herbstes hat sich auch der deutsche Lyriker Rainer Maria Rilke beschäftigt, und zwar in seinem Gedicht „Herbsttag”:

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. 
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, 
und auf den Fluren laß die Winde los. 

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; 
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, 
dränge sie zur Vollendung hin und jage 
die letzte Süße in den schweren Wein. 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. 
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, 
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben 
und wird in den Alleen hin und her 
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben

„Herbsttag” verfasste Rilke im Jahr 1902, als er sich in Paris aufhielt, um dort an einer Monographie über den Bildhauer Auguste Rodin zu arbeiten. Damals war sein Leben mehr durch negative Ereignisse geprägt. Ein Umstand, der von vielen für eine autobiografische Deutung des Gedichts herangezogen wird.

In der dritten Strophe wechselt Rilke von einer Art Anrede Gottes, zu einer Selbstreflexion über den Herbst. Der Lyriker selbst scheint hier der unruhig umher Wandernde zu sein, wie der Metrumsbruch beim Adjektiv „unruhig” vermuten lässt. Einerseits kann dies positiv gedeutet werden, da Rilke – als das lyrische Ich seines Gedichtes – die Herbst-Zeit nutzt, um Bücher zu lesen, lange Briefe zu schreiben und sich damit der fremden und der eigenen Kunst hinzugeben. Andererseits evoziert er den Eindruck eines einsamen, melancholischen Mannes: „Wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben”.

Nicht traurig, sondern dankbar

Auch in der modernen Popkultur findet man diese melancholische Art der Darstellung des öfteren. Insbesondere bei Sängerin Lana Del Rey, die sich auf ihren Alben bewusst als hocherotische, aber gleichermaßen vergängliche Frau inszeniert. Warum mir gerade Lana einfällt? Weil in meiner Playlist, während ich am See entlang gehe, zufällig ein Lied von ihr auftaucht, „Born to Die”.

Auf Dauer sicherlich sehr deprimierend, philosophiere ich. Eine Idealisierung des Morbiden war noch nie so mein Ding. Dennoch: Die Blätter im Herbst fallen zu sehen – und diese Beobachtung hat schließlich auch etwas Melancholisches – erinnert mich jedes Jahr aufs Neue daran, wie dankbar ich sein kann. Man könnte auch sagen, dass das Wissen um meine eigene Vergänglichkeit mich darauf hinweist, das Diesseits stärker zu genießen. Eigentlich müsste ich öfter so denken und bewusster leben, finde ich. Immer dann zum Beispiel, wenn ich mich mal wieder in vollen Zügen der Arbeit hingebe und bei all dem Stress vergesse, was für ein Geschenk unser Leben doch ist.

er ruft mich und er lässt mich nicht los

Der Herbst ist also nicht nur ein nachdenkliche und melancholische Jahreszeit. Er ist ambivalent. Genauso wie das Gedicht von Rilke und die welkenden und aufblühenden Blumen im Gemälde: Wenn das Laub in den schönsten Farben schimmert, die Luft klar ist, und ich in warmer Jacke nach draußen gehe, werde ich fröhlich und fühle mich belebt. Belebter noch als im Sommer, der mich mit seiner Wärme manchmal eher hinunterdrückt als mich auf höhere Ebenen zu tragen.

Und so laufe ich ein drittes Mal um den Park herum. Allein mit meinen Gedanken und Lana. Langsam kommt auch die Sonne hinter den Wolken hervor. Windig ist es immer noch. teilweise schlagen die Äste sogar laut gegeneinander. Am Ende verbringe ich an diesem poetischen Ort sogar mehr als 2 Stunden und mache Fotos. Ich kann nun mal nicht anders. Denn der Herbst liegt in der Luft. Er ruft mich und er lässt mich nicht los.

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