Der Auftragslügner

„Wir nehmen den Leuten das Lügen ab“, sagt Stefan Eiben mit einem verschmitzten Lächeln in den grau-blauen Augen. Er schlägt die Beine über und lehnt sich entspannt in seinem Sessel zurück: „Im Grunde denken sich alle ständig Alibis aus – der Akku war leer, der Wagen sprang nicht an. Ich war nur der Erste, der das für andere gemacht hat.“ Vor 20 Jahren gründete Eiben die weltweit erste Alibiagentur. Seitdem ist er Deutschlands gefragtester Auftragslügner.

Ob für den Seitensprung, eine Geburtstagsüberraschung oder eine Auszeit vom Alltag – der 44-Jährige verschafft seinen Kunden wasserdichte Alibis für fast jede Lebenssituation. „Ich bin, wie die meisten Menschen, ein ganz schlechter Lügner“, sagt Eiben. „Man steht dabei so sehr unter Druck, dass man sich ungewollt auffällig verhält. Aber eine Lüge, die sich beweisen lässt, glaubt jeder“, ist er überzeugt. Und genau das bietet seine Alibiagentur, die in Bremen sitzt: Profi-Lügen, die so perfekt durchdacht sind, dass sie nicht auffliegen – es sei denn, man entscheidet sich selbst dazu, sein Geheimnis preiszugeben, so der Agentur-Gründer.

Vor 20 Jahren gründete Stefan Eiben die Alibiagentur. Foto: Hartmann ()

Vom verlorenen Abend zum Start-up

Dass Stefan Eiben irgendwann das weltweit führende Alibi-Unternehmen leiten würde, hätte sich der gelernte Informatiker aus Oldenburg selbst in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Denn eigentlich begann alles nur mit einem verlorenen Samstagabend: Der damals 25-jährige Eiben war mit zwei Freunden zum Männerabend verabredet – und wurde kurz vorher versetzt: „Weil deren Freundinnen nicht wollten, dass sie weggehen“, erzählt Eiben kopfschüttelnd. „Ich dachte mir, das kann doch wohl nicht wahr sein, dass sich erwachsene Männer ihre Pläne verbieten lassen.“ Für den freiheitsliebenden Stefan Eiben war das Verhalten seiner Freunde und deren Freundinnen völlig unverständlich.
Wütend setzte er sich an seinen Computer und programmierte eine Internetseite: Die Alibiagentur sollte Männern wie seinen Freunden Vorwände liefern, um der Freizeitbeschäftigung ihrer Wahl nachgehen zu können. „Das war überhaupt nicht als Geschäftsidee angelegt“, erinnert er sich. Nur wenige Wochen später bekam er einen Anruf von BBC. „Ich dachte, da will mich einer veräppeln, und habe aufgelegt. Aber dann riefen sie wieder an und ich habe mein erstes Interview auf Englisch gestammelt“, lacht der Unternehmer. „Dabei hatte ich noch gar keine Kunden.“ Doch auch die ließen nicht lange auf sich warten.
Anders als vermutet, waren es allerdings keine Seitensprünge, die er vertuschen sollte, sondern ganz harmlose Geschichten: „Einer meiner ersten Kunden war ein Mann, der seiner Freundin einen Heiratsantrag machen wollte. Um diesen vorzubereiten, brauchte er zwei freie Abende – hätte er einfach behauptet, Überstunden zu machen, wäre seine Freundin misstrauisch geworden“, erinnert er sich.
Heute, knapp 20 Jahre nach dem Blitzstart der Agentur, wäre dieser Job nur eine Kleinigkeit für den Profi. Die Liste der möglichen Alibis ist lang geworden: gefakte Fotos, Facebook-Freunde oder Anrufe, anonyme Hotelbuchungen und manipulierte Lügendetektortests sind nur wenige Beispiele. Für die kniffligeren Fälle gibt es maßgeschneiderte Alibis. Denn um über Jahre hinweg ein Doppelleben zu führen, muss die Agentur ein dauerhaft funktionierendes Lügenkonstrukt erstellen. Ihr längster Kunde führt seit 16 Jahren ein Leben mit zwei Frauen: seiner Ehefrau und einer weiteren Partnerin, die auch verheiratet ist. Durch die Alibiagentur blieb seine Lebenslüge über all die Jahre unentdeckt: „Wir haben für ihn einen beruflichen Grund geschaffen, warum er in regelmäßigen Abständen verreisen muss“, verrät der Agentur-Chef.
Auf die Frage, warum man sich in solchen Situationen nicht scheiden ließe, zuckt Eiben nur mit den Achseln: „Das habe ich mich am Anfang auch gefragt, aber nach 20 Jahren weiß ich: Eine Scheidung ist sehr schwierig. Viele können sich das schon aus finanziellen Gründen gar nicht leisten.“

Ungewöhnliche Lebenslagen

Unzählige Geschichten hat Eiben in all den Jahren gehört – Geheimnisse, die kein Mensch außer ihm je erfahren durfte. Für seine Kunden ist er eine Vertrauensperson und diese Aufgabe erfüllt er mit großer Gelassenheit und viel Verständnis für ungewöhnliche Lebenslagen. Die berufliche Routine hat sich inzwischen sogar in sein Privatleben übertragen: „In meinem Freundeskreis bin ich der Zuhörer für diskrete Themen“, erzählt er lächelnd.
Trotzdem, langweilig werde es nie, denn: „Kein Fall ist wie der andere“, sagt der Gründer. Ob Dominas, die von der Großstadt ins Dorf gezogen sind und nicht an den Rand der Gemeinschaft gedrängt werden wollen, Homosexuelle, die Angst vor der Reaktion ihrer Familie haben, oder Krebskranke, die ihre Krankheit verheimlichen wollen: „Es kommt gar nicht so häufig vor, dass wir tatsächlich den klassischen Seitensprung vertuschen sollen“, sagt er. „Aber auch dann ist nicht alles schwarz-weiß. Der typische Seitenspringer kommt nicht zu uns, sondern macht es einfach. Diejenigen, die sich bei uns melden, haben häufig sehr komplizierte Hintergrundsituationen“, erklärt er. Moralische Bedenken habe er daher keine. Im Gegenteil, er hätte welche, wenn er den Job nicht machen würde, denn dann ließe er die Menschen mit ihren Problemen alleine: „Einmal haben wir einer Frau geholfen, deren Mann querschnittsgelähmt ist. Er hatte ihr die Erlaubnis gegeben, mit einem anderen Mann Sex zu haben, aber sie wusste, dass ihn das verletzen würde. Sie wollte ihn nicht in dem Wissen zurücklassen, dass sie einen anderen Mann trifft. Bei solchen Geschichten bekomme ich Gänsehaut“, erzählt Eiben leidenschaftlich und sagt: „Was moralisch verwerflich ist, muss jeder für sich selbst wissen, aber ich maße mir nicht an, darüber zu entscheiden.“

Dennoch gibt es Grenzen für die Hilfsbereitschaft der Agentur. Einige Jobanfragen hat selbst der routinierte Auftragslügner abgelehnt: „Ein Mann wollte, dass wir mit seiner Freundin Schluss machen, weil sie von ihm schwanger geworden ist. Das geht gar nicht“, entrüstet er sich. Trotzdem hat Eiben nie den Glauben an das Gute im Menschen verloren. Die Mehrheit seiner Kunden wenden sich nicht aus selbstsüchtigen Gründen an ihn, sondern, um sich harmlose Wünsche zu ermöglichen, oder um andere zu schonen. Auch ein Kunde, der ihn ab und an beauftragte, die Häkeldecke seiner Frau zu bestellen. Mit Leidenschaft betrieb sie einen Online-Shop für die selbst gemachte Ware, doch lange Zeit gab es keine Käufer. Um ihr Mut zu machen, entschloss sich ihr Mann, Schein-Bestellungen zu beauftragen.
Um der Vielzahl von unterschiedlichen Kundenwünschen gerecht zu werden, arbeiten neun feste und über 2000 freie Mitarbeiter in Deutschland, Österreich und der Schweiz für das Unternehmen. „Wir haben so viele Mitarbeiter, weil wir unterschiedliche Stimmen und Typen brauchen“, so Eiben. „Wenn ein Kunde die Stimme seiner 80-jährigen Oma mit bayrischem Akzent für einen Scheinanruf braucht, dann liefern wir die“, sagt er. Häufig sind die freien Mitarbeiter Schauspielschüler. Für die sei es das perfekte Training, wenn sie beim Familienbesuch die Freundin eines Kunden spielen müssten. Zudem sind in ihrer Kartei etwa 100 Partnerfirmen gelistet, die für Alibis zur Verfügung stehen. So kann die Agentur ihren Kunden sogar Fake-Jobs in realen Unternehmen zu vermitteln. „Wir hatten einen asiatischen Kunden, der am Fließband arbeitete und viel Geld verdiente. Doch in Asien ist diese Arbeit unter der Würde und deshalb durften seine Eltern nichts davon erfahren. Wir haben ihm dann einen Schreibtischjob bei einer echten Firma beschafft, wo er sogar von seiner Familie besucht werden konnte“, erzählt Eiben.

Der Gründer expandiert nach Spanien und Stephan Drabinski übernimmt die Leitung der Agentur in Bremen. Foto: Hartmann ()

Treue ist mir wichtig

Das Geschäft mit den großen und kleinen Lügen läuft gut. Noch in diesem
Jahr eröffnet der Bremer Unternehmer ein zweites Büro an der Costa Blanca – gemeinsam mit seiner spanischen Lebensgefährtin. Obwohl sie weiß, dass er ein professioneller Schwindler ist, sei sie nicht besonders eifersüchtig, sagt er. „Das muss sie auch nicht sein, weil mir Treue sehr wichtig ist.“ Auch wenn er für seine Kunden die perfekten Lügengeschichten kreiert, für sich selbst könnte er das nicht tun: „Ich bin grundsätzlich ein ehrlicher Mensch – und mir kann jeder die Wahrheit sagen, ohne dass ich beleidigt bin. Außerdem würde meine Freundin es mir sowieso ansehen, wenn ich lüge.“