Foto: Janina Kück

Aufm Kiez mit Nicole

Bremerhaven-Lehe ist einer der berüchtigtsten Stadtteile Deutschlands. Armut, Gewalt, Kriminalität, hoher Ausländeranteil – alles Zutaten für eine gute Schlagzeile in der BILD. Lässt sich das Viertel einfach so abstempeln? Ich habe mich mit einer getroffen, die es wissen muss: Nicole ist eine meiner engsten Freundinnen und gleichzeitig ein wahres Lehe-Urgestein, das die meiste Zeit seines Lebens dort verbracht hat. Direkt aufm Kiez hat sie mir versteckte Streetart gezeigt und dabei unverblümt aus dem Lehe-Nähkästchen geplaudert.

Vorab: Lehe hat es in sich. Das weiß jeder, der von hier kommt und auch jeder, der einmal das fragwürdige Vergnügen hatte, dort nachts durch die Straßen laufen zu müssen. Soziale Brandherde zu banalisieren und das Viertel jetzt als hippen Szene-Treff anpreisen zu wollen, ist also nicht Sinn und Zweck dieses Beitrags. Mit Nicole zu reden hat mir allerdings eine weitaus differenziertere Sichtweise auf „Bremerhavens Schandfleck“ vermittelt, als ich sie vorher hatte – und das, obwohl ich selbst in Lehe arbeite.

Damals und so

„Du junges Landei kannst dir gar nicht vorstellen, wie meine Familie und ich hier gelebt haben“, sprudelt es schon aus Nicole heraus, während wir noch in ihrem kleinen weißen Smart sitzen und einen Parkplatz suchen, um das erste Streetart-Motiv abzulichten. „Wir hatten echt alles, was man zum Leben braucht – auch wenn sich das total old school anhört. Nach damals und so.”

Verschiedene Läden, viele Bäcker, Kioske, Eiscafés und Imbisse zum Beispiel. „Kikis Imbiss in der Hafenstraße war ne Institution, vor allem der selbstgemachte Ketchup da.” In der Nähe sei auch ein Fachgeschäft für Kohle gewesen, wie Nicole daraufhin mehrfach wiederholt – fast so, als ob sie es selbst nicht glauben könnte. „Lehe hat damals funktioniert. Es war zwar nicht reich, aber gutbürgerlich.”

Bei aller Liebe zum Kohlegeschäft, am liebsten erinnert sich Nicole an die “richtige Kneipenkultur” von früher. Ihre Großeltern hatten selbst ein Lokal in der Heinrichstraße, Ecke Gnesenerstraße. „Gott, ne Kneipe gabs damals eigentlich überall, in jedem Eckhaus. Meine Eltern und ich haben über der Kneipe gewohnt. Ich bin also mit dem ganzen Drumherum aufgewachsen.” Aha. Die Gute hat also jeden Tag in der Kneipe verbracht, denke ich an dieser Stelle unseres Gesprächs. Nach so einer “Beichte” wundert mich zugegeben nichts mehr. „Okay, nicht jeden Tag”, schiebt Nicole schnell hinterher. „Mittwochs war die Kneipe immer zu. Oma hat aber trotzdem hinten gekocht, auch für Stammgäste.” Sowas verdiene es ja wohl “ganz eindeutig”, richtige Kneipenkultur genannt zu werden: „Die Männer haben bei uns Skat gespielt und ihre Frauen haben zu Hause mit dem Nudelholz auf sie gewartet. Da gabs nicht so viele Asos wie heute, die alle schon morgens um halb zehn den Weg nicht mehr nach Hause finden.“ Nebenbei: Das Wort “Aso” benutzt Nicole gerne, ohne es dabei wirklich böse zu meinen. Sie redet nun mal so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Hate it or love it! Eine der Eigenschaften, die ich persönlich am meisten an ihr schätze.

Foto: Janina Kück

Heute ist Nicole in den 40ern. Summa summarum hat sie 31 Jahre in Bremerhaven-Lehe verbracht. Unterbrechungen durch Wohnortwechsel natürlich nicht mit eingerechnet. 31 Jahre, in denen sie ihren ersten Kuss bekommen und ihren Mann kennengelernt hat. 31 Jahre, in denen sie ihr eigenes Kind in Lehe großgezogen hat. „Klar, kann man sagen, dass mich dieser Stadtteil geprägt hat. Meine Erfahrungen, positive wie auch negative, haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.“

Der Schandfleck hat Potential

Dass der Stadtteil von vielen, gerade nach außen hin, als Schandfleck wahrgenommen wird, bedauert sie deshalb: „Kunst- und kulturtechnisch geht hier doch einiges. Guck selbst!” Vor allem im so genannten Goethequartier sehe man diese Entwicklung deutlich. Hier findet sich übrigens auch die meiste Streetart.

Obschon vieles unternommen werde, um den Kiez rund um die Goethestraße wieder attraktiver und stärker zu machen, müssten die Bremerhavener solche Änderungen aber auch annehmen betont Nicole: „Paradox: Wie soll sich die Wahrnehmung nach außen hin ändern, wenn von Innen nichts passiert? Stempel drauf und fertig! Was soll sowas? Für mich hat der Schandfleck Potential.” Ganz das emotionale Lehe-Urgestein, das sie ist, hat Nicole selbstverständlich einen Ratschlag für die Zukunft ihrer ehemaligen Hood parat: „Die Stadt sollte sich drum kümmern, mehr Wohnraum zu schaffen, damit die richtigen Leute nach Lehe ziehen.”

Diese würden dann wiederum Ideen mitbringen: mehr Cafés, kleine Bistros und Pop-up-Stores, die sich später etablieren könnten. Der Rest käme vielleicht sogar von selbst. Dass viel Geld in die Hand genommen werden muss, um die teils stark verwahrlosten Altbauwohnungen wieder flott zu machen, sei ihr natürlich klar. „Für mich gibt es aber nichts Schöneres, als urbanes Wohnen.”

Hoher Ausländeranteil, hohe Kriminalitätsrate. Richtig gut kommt Lehe wie gesagt nicht in den Medien weg. „Na ja, das große Ganze findest du nicht in so einer Sichtweise wieder”, argumentiert Nicole, als ich sie im Nachhinein auf eine Schlagzeile in der BILD anspreche, die ich vor einigen Tagen beim Bäcker gelesen habe. „Jede Stadt hat ihr Problemviertel. Was sollen denn Großstädte machen?” Viele Ausländer habe es nämlich schon in ihrer Kindheit in Lehe gegeben: „Das waren Gastarbeiter. Ganz normal. Immer wenn wir da zum Geburtstag eingeladen waren, fanden wir die Menschen und ihr gesamtes Umfeld total spannend. Globalisierung gabs damals noch nicht.” Zu den vermehrten Überfällen derzeit kann und will sie nicht viel sagen: „Ich habe halt keine Zahlen in der Hand, die ich dir präsentieren könnte. Schade, was? Im Moment lese ich immer, dass auch Geestemünde so gefährlich sein soll. Bremerhaven ist also an sich keine gute Wahl.”

Anzeige war früher Stubenarrest

Wenn es nach ihr geht, liegt das Problem in Lehe vielmehr bei den jüngeren Menschen, beziehungsweise beim Umgang mit ihnen: „Manchmal glaube ich, dass vor allem Kinder und Jugendliche zu schnell kriminalisiert werden.” Sie selbst sei schließlich auch “nicht ohne” gewesen: „Als Kind habe ich im Edeka Cordes mal ne Stinkbombe hochgehen lassen. Da kam der Chef zu uns nach Hause, hat mich bei den Eltern angeschissen und ‘dududu’ gemacht. Ich bekam Stubenarrest und fertig. Heute wird sofort die Polizei gerufen, Anzeige erstattet und dramatisiert.”

Um jungen Menschen und damit auch dem Viertel wieder auf die Beine zu helfen, seien insbesondere soziale Projekte von Bedeutung. „Natürlich wird es in jeder Generation Kinder geben, die durchs Netz fallen. Gerade die müssen wir so weit stärken, dass sie später keine Hilfe mehr benötigen.” Nicole selbst engagiert sich seit Jahren für mitKids, ein Projekt der Ehlerding-Stiftung, bei dem es darum geht, Kinder aus benachteiligten Familien mit starken Bezugspersonen zusammen zu bringen und ihnen dadurch ein Gefühl von Stabilität zu geben. „Mir ist sowas halt wichtig.  Anders als Rückenwind zum Beispiel hat mitKids nicht nur etwas mit Kindern aus Lehe zu tun – aber es steht für das, an was ich glaube: Wir hängen hier nun mal alle zusammen in unserem kleinen Fischteich. Viele Teile, eine Stadt.”

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