Foto: Heike Leuschner

Alligatoah: Mann der tausend Gesichter

Alligatoah liebt es unterirdisch. In Blaumann und Gummistiefeln erobert er die Kanalisation. Eine Kulisse, die der Künstler für seine Akkordarbeit-Tour selbst entworfen hat. Noch bevor der 28-Jährige sein explosives Feuerwerk aus Wörtern und Reimen zündet, jubeln ihm die Massen frenetisch zu. Ihm, dem Jungen aus Neuenwalde, der eigentlich Lukas Strobel heißt und gegen Ende der Nullerjahre auszog, um Filmemacher zu werden. An diesem Ziel arbeitet er noch. Einer der großen deutschen Rapper ist er schon…

Es ist Sonntagmittag. Die Sonne brennt auf das Deichbrand-Gelände. Zum ersten Mal in 14 Festivaljahren hat ein Künstler mehrere tausend Klappstühle für das Publikum aufstellen lassen. Brav sehen die Fans darauf aus, als würden sie ihren Abschlusszeugnissen entgegenfiebern. Doch der, auf den sie warten, ist kein Schuldirektor und auch kein Lehrer. „Willst du mit mir Drogen nehmen?“, säuselt Alligatoah ins Mikrofon. „Dann wird es rote Rosen regnen“, schallt es aus zigtausenden Mündern zurück.

Foto: Heike Leuschner

Kaum ein Dutzend Kilometer trennen die Deichbrand-City in Wanhöden vom Ort seiner Kindheit in Neuenwalde. Hier ist Lukas aufgewachsen, als Sohn einer Tänzerin und eines Theater-Schauspielers. Ohne Fernseher, aber mit Computer und Internetanschluss. Hier hat er Akustikgitarre spielen gelernt. 16 Jahre ist er alt, als er im Kinderzimmer seine ersten Raps schreibt, produziert und ins Netz lädt.

Das Spielfeld Alligatoah gibt mir die Möglichkeit, in allen möglichen Bereichen kreativ zu sein.

Nach dem Abitur am Internatsgymnasium in Bad Bederkesa zieht Lukas  nach Berlin und absolviert eine Ausbildung zum Grafiker. Sein großes Ziel: Regisseur. „Aber Filmemacher zu werden ist ein sehr zeitintensiver Prozess, man muss viele Praxiserfahrungen sammeln“, sagt der 28-Jährige. Parallel zu seinem Studium beschäftigt er sich intensiv mit der Musik. Mit Erfolg – auch ohne große Plattenfirma. Die sozialen Netzwerke und Musik-
kanäle wie YouTube machen ihn bekannt.

Sein Faible für den Film lebt er in seinen Musikvideos aus, in denen er selbst Regie führt. Ein Glücksfall für den Mann, der sich selbst als Schauspiel-Rapper bezeichnet. „Das Spielfeld Alligatoah gibt mir die Möglichkeit, in allen möglichen Bereichen kreativ zu sein.“

Lukas lässt sich nicht in eine Schublade stecken. Seine Bühnenshows mit Kulissen, die wie Kindertheater wirken, sind ein starker Kontrast zu dem mitunter derben und drastischen Rapper-Vokabular, mit dem er spielt und provoziert. Die Texte scheinen nicht zu den eingängigen Melodien zu passen. Und sein Oberlippenbärtchen samt schlaksiger Figur hat so gar nichts mit dem muskelgestählten Prototypen eines Rappers gemein. Der Musiker, dem Liedermacher wie Hannes Wader und Franz Josef Degenhard wichtig sind, wirkt äußerlich eher ein bisschen wie aus der Zeit gefallen.

Hinter den Deichbrand-Kulissen, im nüchternen Garderobenumfeld, tauscht Lukas seine Bühnenkluft gegen kurze Hosen, Shirt und Turnschuhe. Sein privates Zuhause beschreibt er als spartanisch und sehr kontrastreich zu seinen ausschweifenden Bühnenshows. Er versuche, mit wenigen Dingen auszukommen. „Ich tendiere dazu, gern noch weniger zu haben und manchmal gern aus einem Rucksack leben zu wollen. Mit den nötigsten Dingen, die man so braucht, weil das den Kopf weniger belastet.“

das Landleben und die Natur inspirieren ihn

Dass er „zweigleisig wohnt“, in Berlin und in einem „Häuschen im Umland der Großstadt“, klingt wie eine Liebeserklärung an seine Kindheit in Neuenwalde. Das Landleben und die Natur inspirieren ihn zum Texteschreiben, zum Kreativsein. „Nur in dieser Ruhe finde ich das Gespräch mit mir selber und komme auf die Gedanken, die ich brauche, um etwas Innovatives zu schreiben, was noch nicht aufgeschrieben wurde.“

Dabei beobachtet der Musiker seine Umwelt und ihre Phänomene genau. Im Stück „Willst du“ aus seinem Album „Triebwerke“ erzählt er die Geschichte eines Liebespaares, das Klischees nachjagt und seine Idole ausgerechnet in Menschen findet, die mit Drogen und sich selbst Probleme haben. „Gleich rutscht mir die Hand aus“, rappt Alligatoah da, „du wirst mit den Kindern nirgendwohin fahr’n! Ich werd euch mit ‚ner Axt durch ein Labyrinth jag’n.“

 

 

In seinen ersten beiden Alben „Attntaat“ und „In Gottes Namen“ beschäftigt er sich mit religiösem Fanatismus und Terrorismus. Voller Ironie und Sarkasmus rappt er: „Denn ich mach Terroranschläge auch an Wochentagen. Aber ohne Skrupel, denn ich tu’s in Gottes Namen.“ Lukas verzichtet bewusst auf den pädagogischen Zeigefinger. „Alles, was ich mache, ist die Gedanken aufzuschreiben, die in meinem Kopf sind. Und die sind auch manchmal voller Kraftausdrücke und voller derber Sprache, weil das genau das ist, was mich künstlerisch interessiert.“

Ich finde, alles muss gesagt werden dürfen.

Lukas sorgt sich nicht, dass sein Alter Ego Alligatoah missverstanden werden könnte. „Ich bin Musiker, ich kann nur Gedanken formulieren, die vielleicht bei dem einen oder anderen etwas auslösen.“ Man dürfe seine jungen Anhänger auf keinen Fall unterschätzen: „Die können zwischen Ironie und Nichtironie unterscheiden und die Sachen sehr gut einordnen.“ Es gibt für ihn auch kein Thema, vor dem er musikalisch zurückschrecken würde – es sei denn, ihm fehlen die passenden Worte dafür. „Ich finde, alles muss gesagt werden dürfen.“

Lukas schaut auf die Uhr. In einer halben Stunde fährt sein Tourbus vom Festivalgelände los, der ihn und seinen Musikerkollegen Sebel zurück nach Berlin bringen wird. Zeit für einen Abstecher nach Neuenwalde hat er dieses Mal nicht. Im kommenden Monat erscheint sein neues Album. Dafür müssen noch Videos gedreht werden. In die Rolle des Regisseurs schlüpft er natürlich auch dieses Mal selbst. „Das sind gerade sehr intensive Phasen. Wenn ich jetzt in den Bus steige, habe ich nur tourfrei. Ansonsten geht es mit der Arbeit direkt weiter.“

Der Urlaub im Cuxland muss warten – mindestens so lange, bis das neue Album erschienen ist.