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Unter der Haut: Mythos Jungfräulichkeit

Oft feministisch, noch öfter intim: In ihrer Kolumne schreibt Janina über alle Themen, die ihr unter die Haut gehen. Heute geht es um Sexualität und das Konzept von „Jungfräulichkeit”. Was steckt dahinter und wie wirkt es sich auf unsere Definition von Sex aus?

N eulich im Bus in Bremerhaven. Ein Gespräch zwischen zwei jungen Männern: „Ich dachte, deine Freundin ist noch Jungfrau?”, fragt der eine. „Ist sie ja auch”, beteuert der andere. „Ich habe sie die ganze Zeit nur in den Arsch gefickt.” Zwar hatte die Unterhaltung noch viele weitere Höhepunkte zu bieten, doch genau dieser Satz und die dahintersteckende Vorstellung waren es, die mir im Nachhinein nicht mehr aus dem Kopf gingen – eine in den Arsch gefickte Jungfrau. Ich fing an, mir Gedanken darüber zu machen, was es heutzutage eigentlich heißt, Jungfrau zu sein und Sex, beziehungsweise keinen Sex zu haben.

Wann ist eine Jungfrau eine Jungfrau?

Was die beiden aus dem Bus unter Jungfräulichkeit verstehen, ist schon mal eindeutig:

Penis in Körperöffnung (außer Vagina) = Jungfrau

Im Umkehrschluss:

Penis in Vagina = keine Jungfrau

Am liebsten hätte ich noch gefragt, ob das Ganze jetzt Sex für ihn war oder nicht. Immerhin hatte er bei seiner lautstarken Diskussion ja das Verb „ficken” benutzt. Ein bisschen weiter gedacht, wäre auch eine Diskussion über „Homosexualität” aufschlussreich gewesen: Bleiben Lesben ihr Leben lang Jungfrau(en), weil sie nicht durch einen (echten) Penis penetriert wurden? Ein Strapon zählt in seiner Logik höchstwahrscheinlich nicht. Und wie ist es bei Schwulen? Bei einem schwulen Pärchen sind immerhin zwei Penisse beteiligt, wenn auch andere Körperöffnungen.

Ich bin mal so frei und behaupte, dass sich keiner der beiden je Gedanken über diese Fragen gemacht hat. Warum auch? Wie auch? Unsere jeweilige Kultur gibt uns schließlich maßgeblich vor, mit welcher Brille wir unser gesellschaftliches Umwelt betrachten und solche Fragen beantworten. Sex und Jungfräulichkeit sind dabei zwei besonders stark internalisierte Konzepte – von Generation zu Generation weitergegeben und leider immer noch unzureichend reflektiert. Als ich in der Grundschule sexuell aufgeklärt wurde, herrschte schließlich auch noch ein traditionelle(re)s Verständnis von Sex:

Sex = Vaginalsex = Mann und Frau

Der Fokus unserer Lehrerin lag damals mehr darauf, anatomische Grundlagen zu vermitteln oder ersten Fragen zur Periode zu beantworten.

Vom Geschlechtsverkehr zum Sex

Heutzutage ist das zum Glück nicht mehr so: Auch andere sexuelle Praktiken werden stärker akzeptiert, wodurch der Begriff des Geschlechtsverkehrs wiederum eine Bedeutungserweiterung erfahren hat: Analverkehr, Oralverkehr, gleichgeschlechtlicher Verkehr, Verkehr mit mehreren Menschen gleichzeitig – all das fällt für die meisten Menschen unter ihre Definition von „Sex”.

Im Gegensatz zu dieser Entwicklung hält sich der Mythos der Jungfräulichkeit relativ hartnäckig: Prominenteste Vertreterin ist Mutter Maria, die ihr Kind nicht durch den Akt mit ihrem Partner, sondern durch den Heiligen Geist empfangen haben soll. Klar, dass sich so eine tolle Geschichte auch heute noch gut vermarkten lässt: Beim US-Serienhit „Jane The Virgin” beispielsweise, dreht sich alles um eine junge, gläubige Latina, die versehentlich künstlich befruchtet wurde. Gina Rodriguez wurde für ihre Darstellung der perfekt dauer-chaotischen Jane Villanueva sogar mit einem Golden Globe in der Kategorie „Beste Serien-Hauptdarstellerin – Komödie oder Musical” ausgezeichnet.

Jungfrau: Ein Begriff mit Tradition

„Jungfrau” hat eine lange Geschichte. Das Wort stammt von dem mittelhochdeutschen juncfrou(we), beziehungsweise dem althochdeutschen juncfrouwa und bezeichnet eine junge Herrin oder ein (unverheiratetes) Edelfräulein, später hingegen ein „junges, sexuell unberührtes Mädchen”. Auch Duden definiert „Jungfrau” als „(besonders weibliche) Person, die noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt hat” (Stand Juli 2017). Der Begriff bezieht sich demnach auf beide Geschlechter, vor allem aber auf das weibliche.

Es ist kein Geheimnis, dass Jungfräulichkeit gerade in patriarchalischen Gesellschaften einen immensen Stellenwert hat. Sie galt im Mittelalter sogar als Bedingung für eine Verheiratung. War eine ledige Frau bei der Hochzeit dennoch nicht mehr unberührt, so konnte sie als Zeichen ihrer Schande gezwungen werden, statt des üblichen Jungfrauenkranzes aus Myrten, ohne Kranz oder mit einem Strohkranz zum Altar geführt zu werden.

Bis ins 20. Jahrhundert wurden Frauen in Europa außerdem auch rechtlich geschützt: Männern, die ihre Verlobte deflorierten, ohne sie danach zu heiraten, drohte in Deutschland die Zahlung eines sogenannten Kranzgeldes, um ihre gesunkenen Chancen auf dem Heiratsmarkt „wieder gut zu machen”. Letzte Urteile dieser Art wurden hierzulande bis in die frühen 1970er Jahre vollstreckt.

Wenn Laken sprechen könnten

Und wie wurde getestet, ob eine Frau wirklich noch jungfräulich ist? Mit einem blutigen Laken in der Hochzeitsnacht natürlich. Das Vorhandensein eines unbeschädigten Jungfernhäutchens, beziehungsweise dessen Einreißen, beim ersten Geschlechtsverkehr wurde als Beweis für ihre Jungfräulichkeit angesehen.

Ein Bild, das man aus Filmen kennt – allerdings nur aus Filmen. Aus medizinischer Sicht ist heute nämlich klar, dass dieser „Beweis” nichts taugt und das Hymen nicht reißen kann: Die dünne Hautfalte, die die Vaginalöffnung umrahmen, teilweise auch überdecken kann, ist weich, elastisch und in den meisten Fällen nicht geschlossen ist. Die Mehrheit der Frauen blutet noch nicht einmal bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr.

Aus Gründen wie diesen wurde in Schweden 2009 sogar offiziell ein neues Wort für „Jungfernhäutchen” eingeführt: vaginale Korona (wörtlich: Scheidenkranz). Experten erklären sich die berüchtigten blutigen Laken mit einer früheren Zeit, in der junge Mädchen an ältere Männer zwangsverheiratet wurden und wahrscheinlich in ihrer Hochzeitsnacht Verletzungen im Genitalbereich erlitten.

Wie wäre es mit Vielen ersten Malen?

Wenn man sich dem Thema „Jungfräulichkeit” aus einer feministischen Perspektive heraus nähert, kann man nicht anders, als Wort und Konzept abzulehnen. Es gibt so viele Dinge daran, die ich als störend und diskriminierend empfinde. Von den fatalen Konsequenzen, die Sex vor der Ehe für Frauen haben kann, mal ganz abgesehen. (Bestrafungen sind noch mal ein eigenständiges und äußerst umfangreiches Thema für sich.).

Vor allem in muslimischen Kulturen kommt es vor, dass Frauen chirurgische Eingriffe vornehmen lassen, um den gewünschten „Beweis” für ihre Jungfräulichkeit liefern zu können. Bei der Hymenalrekonstruktion wird der Hymenalsaum operativ aufgebaut, sodass er beim Geschlechtsverkehr einreißt und zu bluten beginnt. Alternativ wird eine Kunststoffmembran mit Kunstblut eingesetzt. Dass die Nachfrage nach solchen Eingriffen auch in Deutschland und der Schweiz steigt, war bereits Thema im Deutschen Ärzteblatt.

Besonders evident bei der Idealisierung von Jungfräulichkeit ist für mich der Verlustgedanke: Frau hat ersten Geschlechtsverkehr mit Mann, Frau verliert ihre Unschuld. Frau ist dadurch weniger rein als vorher. Verstaubt, heteronormativ und misogyn!

Die Forderung, das Mädchen dürfe in die Ehe mit dem einen Manne nicht die Erinnerung an Sexualverkehr mit einem anderen mitbringen, ist ja nichts als die konsequente Fortführung des ausschließlichen Besitzrechtes auf das Weib, welches das Recht auf Monogamie ausmacht, die Erstreckung dieses Monopols auf die Vergangenheit.Sigmund Freud – Tabu der Virginität

Mit Anfang 20 wäre ich per Definition der beiden Busfahrenden übrigens auch noch Jungfrau gewesen. Habe ich mich als solche bezeichnet oder mich als solche gefühlt? Nein. Schließlich hatte ich vorher schon andere sexuelle Erfahrungen gemacht. Vaginalsex war nun mal nicht dabei. Warum? Weil ich kein gutes Gefühl dabei hatte, diese sexuelle Variante mit „irgendwem” auszuprobieren. Der richtige Partner war damals eben nicht in Sicht und ich war nicht bereit, jemanden körperlich und damit auch emotional in mich aufzunehmen.

Schlecht habe ich mich mit dieser Einstellung im Allgemeinen nicht gefühlt. Anders wurde es natürlich, als sie in Gesprächen mit Freunden und Familie explizit zum Thema gemacht wurde: „Was? Du hast noch nicht?”. Wie ein Stigma, das auf mir lastete. Wie müssen sich erst wesentlich ältere Menschen fühlen, die – aus was für Gründen auch immer – nicht sexuell aktiv sind. In der Haut einer männlichen Jungfrau möchte ich ebenfalls nicht stecken. Ich schätze mal, dass Jungfräulichkeit ab einem gewissen Alter schnell mit Unmännlichkeit gleichgesetzt wird.

Für mich ist das Wort „Jungfrau” falsch, irrelevant und überholt. Mir gefällt die Vorstellung vieler erster Male. Jede neue sexuelle Erfahrung fühlt sich wie ein erstes Mal an. Jedem neuen Menschen näher zu kommen, fühlt sich wie ein erstes Mal an. Vielleicht würde ich „Jungfrau” durch „sexuell unerfahren” ersetzen, sofern der Begriff gebraucht wird. Zum Beispiel dann, wenn Menschen ihrem Partner mitteilen wollen, mehr Zeit für den ersten Sex in einer neuen Beziehung zu brauchen. Problematisch ist allerdings, dass an dieser Stelle wieder die Vorstellung einer partnerschaftlichen Verbindung durchscheint. Eine Frau, die viel Erfahrung mit Masturbation oder dem Gebrauch von Sextoys hat, per (klassischer) Definition aber noch Jungfrau ist, würde ich nicht als „sexuell unerfahren” bezeichnen. Vielleicht lässt sich für dieses Sprachproblem noch eine andere Lösung finden.

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