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Unter der Haut: Wenn Feinfühligkeit zur Herausforderung wird

Oft feministisch, noch öfter intim: In ihrer Kolumne schreibt Janina über alle Themen, die ihr unter die Haut gehen. Heute geht es um feinfühlige Menschen. Janina ist selbst feinfühlig und berichtet davon, wie sich diese Eigenschaft auf ihren Alltag und ihre Beziehungen auswirkt.

Allgemein gilt: Je älter man wird, desto besser lernt man sich und sein Verhalten kennen. Bei mir im Speziellen gilt: Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass ich ein extrem feinfühliger Mensch bin. Ich bin hochsensitiv. Ein jemand also, der besonders stark auf seine Umwelt reagiert, daher oftmals auch mehr Zeit braucht, um Dinge zu verarbeiten und dementsprechend ein hohes Ruhebedürfnis hat. Viele meiner Reaktionen und Entscheidungen lassen sich auf diese Wesensart zurückführen. Das war in der Vergangenheit so. Das ist auch heute noch so.

Mein Feind der Fernseher

„Kannst du bitte den Fernseher ausmachen?“. Ich glaube, ich nerve meinen Freund mit dieser ständigen Aufforderung. Einerseits tut mir das leid, weil ich ungerne Befehle verteile, andererseits auch wieder nicht. Der Fernseher nervt mich nun mal. Und das nicht nur ziemlich. Wenn er abends oder am Wochenende läuft, und ich mich eigentlich von einer für mich anstrengenden Woche erholen möchte, würde ich am liebsten heulen oder schreien. So stark ist meine Antipathie gegenüber den lauten Geräuschen, insbesondere denen aus Werbeclips, und gegenüber dem flackernden Licht in der letzten Zeit gewachsen.

„Du übertreibst“, würde mein Freund im Gegenzug wahrscheinlich sagen. Für mich ist dieses Gefühl von Überreizung aber leider keine Übertreibung, sondern Ist-Zustand. Nur weil es meinem persönlichen Empfinden entspringt, habe ich ihm mal versucht zu erklären, ist es noch lange nicht unwahr, beziehungsweise geht es noch lange nicht einen Schritt über die Realität hinaus. Ich brauche Ruhe, um runterzukommen. Punkt. Alles andere spannt mich nur noch weiter an.

zwei Gegensätze treffen aufeinander

Erklären lässt sich unsere Patt-Situation mit zwei Begriffen für zwei unterschiedliche Wesensarten: extrovertiert und introvertiert. Benutzt man oft im allgemeinen Sprachgebrauch, aber weiß man auch genau, was dahintersteckt?

Extrovertiert
– nach außen hin orientiertes Verhalten
– höhere Kontaktfreudigkeit, Wunsch nach externen Reizen
– gesteigerte Aktivität

Introvertiert
– nach innen hin orientiertes Verhalten
– besonders empfänglich für externe Reize
– Folge: schnelle Reizüberflutung, Ruhebedürfnis

Was meine Beziehung angeht, so habe ich schnell angefangen, unsere Unterschiede mehr als schätzen zu lernen. Hier geht es schließlich nicht um Schuld oder darum, jemanden umzuerziehen, Hier geht es um verschiedene Wesensarten und darum, aufeinander zuzugehen. Ich liebe meinen Freund für seine Art und finde, dass wir uns sehr gut ergänzen. Vor allem durch unsere Unterschiede,

Von dem Parfum bekomme ich Kopfschmerzen

Während ich mich in meiner Beziehung auf Kompromisse einigen kann, sieht das im Alltag mit Fremden natürlich völlig anders aus. Hier eine Situation, die ich schon oft erlebt habe: Ich sitze im Zug und jemand neben mir hat extrem viel Parfum aufgetragen. Am besten mit einer süßlichen Note. Für mich sind Kopfschmerzen in so einem Fall vorprogrammiert. Wenn nicht sogar Migräne. Bitte ich den Menschen darum, sich wegzusetzen oder das nächste Mal weniger aufzutragen? Nein, natürlich nicht. Dass sich sein Geruch bei mir zum körperlichen Schmerz entwickelt und meine Zugfahrt damit die Ausmaße einer Odyssee annimmt, ist schließlich mein „Problem“.

Als feinfühliger Mensch habe ich oft das Gefühl, dass mich alltägliche Dinge wie diese schnell anstrengen und ermüden. Einkaufen in überfüllten Kaufhäusern nimmt mir die Luft zum Atmen. Besonders im Winter, wenn ich dick eingepackt bin. Genauso war es bei überfüllten Mensen während meiner Studienzeit. Nicht selten folgte die Panikattacke wegen meiner Engegefühle in der Brust. In solchen Momenten fühle ich mich losgelöst von allem. Wie in einer Blase. Das Treiben in der Welt um mich herum rauscht hektisch vorbei und ich bleibe zurück. Wie ein Beobachter von einem fremden Stern.

Oscar Wilde hat immer Recht: Denken ist das Ungesündeste in der Welt

Zusammenhängend mit meiner Erkenntnis, dass ich ein sehr feinfühliger Mensch bin, wurde mir – je älter ich wurde – außerdem klar, dass ich zu viel denke. Und zwar, dass ich viel zu viel denke. Ich zerdenke Dinge.

Ich hatte Phasen, in denen ich stundenlang nachts wach gelegen und über Ereignisse nachgedacht habe. Über Schlimme oder triviale Ereignisse. Über Ereignisse aus meinem Leben oder aus dem von anderen: Warum ist das nur passiert? Warum habe ich in der Situation nicht anders gehandelt? Ob das morgen wieder so läuft? Warum sind die beiden so gemein zueinander? Und so weiter und so fort.

I am one of those
Melodramatic fools,
Neurotic to the bone,
No doubt about it.
Sometimes I give myself the creeps.
Sometimes my mind plays tricks on me.
It all keeps adding up,
I think I’m cracking up.
Am I just paranoid?
Am i just stoned? Green Day

Positiv zu denken lässt sich zum Glück lernen – auch wenn es sich nach einer Phrase anhört. Es bedarf: 1. Akzeptanz von Ereignissen und Situationen, 2. Achtsamkeit sich selbst und seinen Gedanken gegenüber und 3. Arbeit am eigenen Verhalten. Für mich sind diese drei Dinge sehr wichtig, um mit den Herausforderungen, die es mit sich bringt, feinfühlig zu sein, umgehen zu können. Alles andere kann sich aus meiner Erfahrung nämlich zu selbst destruktiven Zügen entwickeln.

Ursachenforschung: Die Kindheit mal wieder

Jedes Kind lernt im Grunde schnell, dass es den Ansprüchen seiner Eltern nicht genügt. Klingt erstmal hart, ist aber so. Die Eltern ermahnen es, gewisse Dinge zu tun oder eben nicht zu tun. Alles eigentlich halb so wild. Schließlich handelt es sich um ein Kind, das noch nicht weiß, was „falsch“ ist, besser, was von ihm „gewollt“ ist. Ich habe allerdings das Gefühl, dass gerade Individuen mit einem feinfühligen Charakter später stärker auf diese Prägung in der Kindheit reagieren als andere.

Jahrelang hatte ich das Gefühl, es anderen nicht recht machen zu können. Ergo habe ich meine eigenen Bedürfnisse untergeordnet und mich auf die von anderen konzentriert. Dahinter stand der Wunsch von anderen geliebt zu werden. In zwischenmenschlichen Beziehungen birgt das leider zum einen die Gefahr, ständig den Kürzeren zu ziehen oder sich zum anderen vom Gegenüber abhängig zu fühlen. Ein äußerst ungesunder Teufelskreis. In einem Bericht auf Spiegel-Online habe ich für dieses Phänomen mal eine sehr anschauliche Metapher gelesen: Feinfühlige Menschen sollten aufpassen, nicht in die Kellner-Rolle des Lebens abzurutschen. Da ist was dran, finde ich.

Heute ist es mir daher sehr wichtig, auf meine eigenen Bedürfnisse zu hören und meine eigenen Grenzen zu kennen. Wenn ich mal keine Lust habe, mich abends noch für ein Treffen fertig zu machen, ist das eben so. Wenn ich mich durch die ständige Informationsflut im Alltag oder die ständige Dauerbereitschaft auf der Arbeit überreizt fühle, ist das auch so. Dann mache ich mein Diensthandy aus, um nur einen möglichen (Aus-)Weg zu nennen.

Warum Feinfühligkeit auch Vorteile hat

Ich habe in meinem Leben schon zwei Sätze gehört, die auch als negatives Fazit aus dem bisherigen Text abgeleitet werden könnten: Erstens, „Du übertreibst.“ Zweitens, „Du bist ganz schön gehandicapt.“ Nein, weder das eine, noch das andere. Dass ich nicht übertreibe, nur weil ich eine andere Wahrnehmung als viele andere Menschen habe, ist für mich ganz eindeutig. Darüber diskutiere ich auch nicht weiter. Worte wie „sensibel“ und „emotional“ gehen bei mir ins eine Ohr rein und in das andere wieder raus. Wie klar und analytisch ich sonst denke, passt nämlich ganz und gar nicht zu dieser einseitigen Betrachtungsweise.

Dass ich nicht gehandicapt bin, möchte ich aber noch genauer erklären: Als feinfühliger Mensch bin ich sehr empathiefähig. Ich habe sehr gute Antennen für Zwischenmenschliches. Anderen zu helfen – und damit meine ich nicht, ein ausgeprägtes Helfersyndrom auszuleben – erfüllt mich mit ungeheuer positiver Energie. Auch wenn ich weiter oben gesagt habe, dass völlige Aufopferung gefährlich ist. Genauso erfüllt mich das Gefühl zu lieben und dabei zu wissen, dass diese Liebe auch erwidert wird. Etwas Schöneres kann ich mir bis dato nicht vorstellen.

Ich habe außerdem ein hohes Gerechtigkeitsempfinden. Ebenso bin ich loyal, kreativ und in der Lage, Zusammenhänge schnell zu erkennen. Fähigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen, die auch im Beruf von Vorteil sind. Jeder Arbeitgeber, der feinfühlige Menschen heutzutage immer noch als schwach und nicht leistungsfähig ansieht, verkennt meiner Meinung nach ihr enormes Potential und ist damit schlicht in einem sozialdarwinistischen Denken hängen geblieben. Und das sage ich nicht nur, weil ich selbst feinfühlig bin.

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Janina

Über Janina Kück

Hat zwei Herzen in ihrer Brust: Das einer kleinen Madame mit einem Faible für französische Mode - Ringelshirts, rote Lippen und Kurzhaarschnitte - und das eines RockʹnʹRoll-Girls, für das laute und wilde Konzerte genauso wichtig sind wie Sauerstoff. Ihre Liebe für Rotwein und Kaffee ist irgendwo dazwischen. Genauso wie ihre dunkle Leidenschaft für Pete Doherty.

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