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Spießigkeit: Zwischen Zwang und leben (lassen)

Was bedeutet es eigentlich, „spießig“ zu sein? Das ist natürlich wie vieles Auslegungssache. Aber mein erstes Gefühl sagt mir, dass der Begriff „Spießigkeit“ eher negativ belegt ist. Ich verwende dann auch gerne die Worte „Stock im Arsch“ in diesem Zusammenhang. Das bedeutet für mich, wenn jemand oberanständig ist. Nichts riskiert. Angst hat, auf die Fresse zu fallen – im Sinne von sich blamieren oder einen Fehler zu machen.

Spießigkeit beinhaltet für mich auch ein Stück weit sich immer an alle Regeln zu halten. Übervorsichtig zu sein. Und sich an bestimmte Fixpunkte im Leben zu klammern. Dass man dadurch wenig spontan ist, ist ganz klar. Auch Veränderungen sind für spießige Person wahrscheinlich eher unschön. Natürlich treffen nicht alle diese Punkte auf jede einzelne Person zu, doch wer drei davon in sich wiederfindet, könnte sich meiner Meinung nach definitiv das Wort „spießig“ auf die Stirn schreiben. Aber ist das jetzt so negativ?

Natürlich nicht. Jeder muss so sein, wie er sich wohl fühlt. Gewisse Menschen sind einfach sicherheitsbedürftiger als andere. Weniger risikobereit. Und weniger spontan. Doch ich finde bei alldem sollte man trotzdem jeden Tag versuchen, seine „comfort zone“ zu verlassen. Sich Aufgaben stellen, die einen vielleicht im ersten Moment nicht ganz angenehm erscheinen oder vielleicht auch einfach mal ins kalte Wasser springen. Mehr Mut haben, neue Dinge auszuprobieren. Mehr „Ja“ sagen. Mehr fragen. Wissbegieriger sein. Einfach mal machen. Wann kann schon passieren?

Von Malkreide, Metzger und Mut

Wenn ich mich in Bremerhaven so umschaue, hält sich die Spießigkeit in Grenzen. Doch wie es Klischees so wollen, findet man sie auch hier in den Vororten – in Langen zum Beispiel. Da bin ich selbst aufgewachsen, meine Eltern leben dort und mit ihnen auch viele Spießer. Dort, wo zwischen 12 und 15 Uhr kein Rasen gemäht werden darf. Wo die Weihnachtsbeleuchtung pünktlich zum ersten Advent angebracht wird. Wo die glücklichen Kinder in den Spielstraßen mit Malkreide kritzeln. Wo jeden Montag ein Großeinkauf gemacht wird und der freitägliche Besuch auf dem Wochenmarkt ein Muss ist. Dann bringt Frau Wurst vom Metzger mit, auch sein Besuch beim Bäcker fürs Sonntagsfrühstück steht auf der Wochenordnung. Eine schöne heile Welt irgendwie. Aber ist sie das wirklich?

Das wage ich zu bezweifeln. Ich habe das Gefühl, die meisten haben sich an diesen gesellschaftlich irgendwie eingebürgerten Alltagstrott gewöhnt. Das ist jetzt ihr Leben. Weil sie es so vorgelebt, irgendwann selbst so angefangen haben und nicht mehr damit aufhören können, da jetzt so drin sind. Weil es ein Risiko wäre, etwas zu verändern oder von Anfang an anders zu machen. Und wer das nicht eingeht, verpasst mit Sicherheit einige Chancen und Aspekte, die das Leben noch so bietet. Glück sieht für mich anders aus. Aber da wären wir wieder bei der Auslegungssache.

Wie spießig bin ich?

Ich habe mich auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umgehört, um herauszufinden, was Spießigkeit für sie bedeutet. Diese Statements möchte ich gerne anonym teilen. Denn ich finde, es besteht keine Notwendigkeit zu erwähnen, wer sich dahinter verbirgt. Die Aussagen selbst sind stark genug.

„Als ich einen Kleiderschrank hatte habe ich gedacht: Jetzt bist du spießig.“

„Stock im Arsch, Ordnungsfimmel und auch einen bestimmten Look verbinde ich mit Spießigkeit. Ich erkenne spießige Personen sofort.“

„Spießigkeit ist für mich etwas traditionell-normatives, was einem wenig Spielraum lässt und das äußert sich meiner Meinung nach in Verklemmtsein. Dass man über bestimmte Themen nicht offen reden kann. Das soll aber nicht heißen, dass Tradition generell etwas Negatives ist. Es kommt halt darauf an, was man daraus macht.”

„Ich bin selber spießig. Ich habe zum Beispiel keine Lust auf Veränderung, bleibe gerne in meiner Komfortzone. Außerdem bin ich auch sehr sesshaft, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass ich zwei Kinder bekommen und ein Haus gekauft habe. Da kannst du nicht einfach sagen: In einem halben Jahr bin ich woanders. Ich war aber auch noch nie der Letzte auf ner Party. Das ist nicht mein Ding. Ich hatte mal einen Junggesellenabschied auf der Reeperbahn – ich hätte kotzen können: In der Kneipe konnte man sich null unterhalten und das, obwohl wir uns zehn Jahre nicht gesehen haben. Alle anderen fanden das irgendwie cool und ich habe mich nur gefragt: Warum sind wir nicht beim Portugiesen sitzen geblieben, da hätten wir viel besser quatschen können? Das ist nicht meine Art, einen Abend zu verbringen. Ich trage auch einen Fahrradhelm, was sie meisten wahrscheinlich spießig finden. Ganz zu schweigen von meinem Rollrasen…”

„Finanzbeamte, Steuerfachangestellte, Bänker – das sind für mich alles Sesselpuper. Trocken. Spießig. Haben von nichts ne Ahnung, außer von ihrem Job – glauben sie. Das erkenne ich schon an der Klamotte. Die sind überhaupt nicht offen, völlig abgestumpft.  Eben so, wie die Gesellschaft das verlangt. Sie unterwerfen sich gesellschaftlichen Zwängen. Ein Beispiel: Wenn ich Geburtstag habe und sage ich feiere nicht, reagieren die meisten schockiert. „Wie? Kein Kaffee und Kuchen?” Oder zu Weihnachten: „Wie jetzt? Du hast keinen Weihnachtsbaum?” Sowas ist mir überhaupt nicht wichtig und Spießer verstehen das nicht. Die sollten mehr leben. Mehr genießen. Und auch mal den Anderen sein lassen, wie er ist.”

„Der Begriff des Spießers ist für mich nicht so negativ konnotiert, wie für viele andere. Ich verbinde damit gesetzte Strukturen, Verlässlichkeit und eine gesunde Form von Routine. Auch Traditionen finden im „Spießertum“ ihren Platz. Das kann jedoch für jeden etwas anderes bedeuten. Ich lebe meine spießige Seite voll aus, wenn ich zum Beispiel mit beinahe ungesunder Akribie samstags früh den Rasen mähe oder mir mein aufwändiges Sonntagsessen gelingt. Spießig ist für mich aber auch die Tatsache, dass mir der Gedanke an eine Zukunft mit Haus, Mann, Kind und Kegel keine Angst einjagt. Im Gegenteil – ich freue mich auf meine gesetzten Strukturen, aber auch darauf, mir weiterhin meine Spontaneität, Offenheit und Flexibilität zu bewahren.”

Meine REFLEKTION: Von Zwang und Perfektion

Strange, das mit 24 zu behaupten, aber ich war selbst schon spießiger, als ich es heute bin. Und ich habe durch diese Erfahrung die Theorie, dass Selbstbewusstsein und Spießigkeit in einem engen Zusammenhang stehen. Wenn man unsicherer ist, klammert man sich gerne an wiederkehrende Ereignisse oder Rituale – denn das gibt Sicherheit. Ist man selbstbewusster, ist man mutiger, Dinge auf sich zukommen zu lassen. Und ist entspannter, wenn auch mal etwas nicht so funktioniert, wie man es sich vorgenommen oder vorgestellt hat.

Life Begins at the end of your comfort zone.

Sprich: In einer Phase meines Lebens, wo ich eher unsicher war, empfinde ich mich im Nachhinein auch als spießiger. Damals – ich muss so 16 oder 17 gewesen sein – war es zum Beispiel schlimm für mich, wenn ich nicht um 18 Uhr zu Abend gegessen habe. Da war es schlimm, wenn ich es Montagabend nicht zum Sport geschafft habe. Und es war schlimm, wenn im Supermarkt genau der Joghurt alle war, den ich immer kaufe. Das könnte man fast als zwanghaft bezeichnen. Es war für mich ein halber Weltuntergang. Ich würde es auf Perfektionismus zurückführen. Ich habe mich da immer mehr reingesteigert, es mir zur Aufgabe gemacht. Aber auch auf das Alter war bestimmt ein Grund – eine Orientierungsphase?

Aber auch solche Dinge muss man erst erleben, um zu erfahren, dass das nicht der richtige Weg sein kann. Denn es hat mich ungemein in meinem Leben eingeschränkt. Also: Ein Hoch auf die Spießigkeit, die uns erst realisieren lässt, wie schön das Leben ist und was da draußen alles auf uns wartet – sofern wir uns erstmal davon befreien konnten.

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Nina

Über Nina Brockmann

Foodie, Yogi und reiseverrückter Lifestyle-Junkie. Kann ohne Kaffee, Avocados und Lachen nicht leben. Steht auf Melancholie, aber nicht auf Mädchenkram wie Kleider oder Nagellack. Nur ohne Lippenstift geht sie äußerst selten aus dem Haus. Auch für Flechtfrisuren hat sie ein Faible.

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